über kubin
„Der Tod und die Fersen“
„Sind wir denn, frage ich, nicht mehr, als dieses Knochengestell, umspannt von Fleischsträngen? Als dieser Korb und Sack, gefüllt mit zuckenden, pumpenden und saugenden Organen, wie ein volles Nest nackter Seetiere ineinandergeschmiegt? Wäre das alles?“
Alfred Kubin
„Ich glaube, Max Dauthendey, der mit Malern Umgang hatte, entdeckte den schmächtigen, immer schwarzgekleideten Jüngling mit dem blassen Knabengesicht, das sich zur Verdüsterung ein bisschen anstrengte und scheu tat wie ein junger Wolf, den man aus der Grube ans Licht gezogen hat. Er brachte ihn und eine große Mappe, besser eine große Mappe mit dem zierlich-kleinen Kubin, der so tat, nichts eigentlich dafür zu können, dass er zeichne, sondern unter Zwängen zu stehen, die ihm die Hand führten.“
Franz Blei
1.
„Freilich war dieses gotisch düstere Gotteshaus mit seinem Prunk immer eine erste, furchtgebietende Größe, doch in meinem kleinen und dabei lebhaft katholischen Heimatdorf fand sich für uns Schuljungen auch wieder ein ganz intim behagliches Verhältnis zu ihr“, lese ich in der autobiographischen Schrift von Alfred Kubin und erinnere mich dabei an die Kirche meines Heimatdorfes in Kamering, in Kärnten, an einen Gottesdienst an einem klirrend kalten Dezembertag, an eine Nische in der Kirchenmauer, rechts vom Hauptaltar, in der hinter einem verglasten Eisentürchen mit einem Eisenkreuz ein kleines Keramiköfchen stand, auf den wir jeden Morgen, um sechs Uhr, in der Zeit der Rorate, eine kleine Karaffe mit kaltem Messwein und eine zweite mit kaltem Wasser stellten und während der Messe, wenige Minuten vor der Wandlung, einen Stromschalter an der Mauer betätigten, warteten, bis Messwein und Wasser in den Glaskaraffen heiß wurden, aber einmal, an einem Wintermorgen, den Ofen zu spät ausschalteten, die mit Messwein und Wasser gefüllten Karaffen in der abgeschlossenen Mauernische platzten und der harzig und verbrannt riechende Messwein zischend über die Keramikoberfläche und über die rot glühenden Drähte des Öfchens und aus der verschlossenen Nische über die Kirchenmauer hinunter auf den Boden rann, der Pfarrer erschrocken die bereits in zwei Teilen zerbrochene, große Hostie – Leib Christi! Corpus Christi! –, von der Hostiensplitter an der Bruchstelle auf ein goldenes Teller abgebröselt war, in den Händen hielt, sich schließlich, streng schauend, nach seinen Ministranten umdrehte, der Mesner zu Hilfe eilte und wir die Scherben mit einem Bartwisch aus der heißen Nische räumten, in der Sakristei Messwein und Wasser in neue Karaffen füllten, der Ritus der Wandlung unterbrochen war, der Pfarrer, in Gebete versunken, mit dem zerbrochenen Leib Christi in der Hand, warten musste, bis der frischeingefüllte Messwein aufgewärmt war und er schließlich den unterbrochenen Gottesdienst fortsetzen konnte und noch einmal „Corpus Christi! Leib Christi!“ rief, den Ritus der Wandlung vollzog und das von seinen Ministranten in der Kirchenmauer aufgewärmte Blut Christi trank, leise und verhalten, die große, zerbrochene Hostie kaute, ehe er mit einem goldenen Kelch voll kleiner Hostien auf die vor dem geschlossenen Kommuniongitter knieenden Gläubigen zuging. „Doch durchtränkte mich in meinen Knabenjahren der allgemeine Hauch des religiösen Geheimnisses so stark, dass diese Jugendstimmungen in mir immer wieder lebendig werden, wenn ich eine schöne, weihrauchduftende Kirche betrete. – Kirche und Schule legten der kindlichen Bestie unzerreißbare Zäume an.“ Intimes und behagliches Verhältnis, um die Worte von Alfred Kubin zu gebrauchen, spürten wir auch, wenn wir uns Ministranten, zu Ostern, am Karfreitag, zur Stunde der leibhaftigen Kreuzigung, um Punkt 15.00 Uhr, neben dem Pfarrer mit unseren rotweißen, spitzenverzierten Ministrantenkleidern für ein paar Andachtsminuten, das Gesicht hinter den Händen versteckend, auf den kalten Kirchenboden legen durften – er hat es uns nicht aufgetragen, ich als Erzministrant bin seinem Beispiel gefolgt und die anderen Ministranten meinem -, bevor wir wieder aufstanden und ich weiterhin die Bewegungen und Gesten des Pfarrers verfolgte und imitierte im Angesicht des frisch Gekreuzigten und hinter uns die Gläubigen, die Kinder, die Jugendlichen und die Alten in den schwarzen, abgewetzten und verunstalteten Bänken ausharrten – ich hielt auf einem Tablett die vergoldeten Kreuzigungsnägel, die der Pfarrer nacheinander in die Hand nahm, die Nagelspitzen an die Flamme einer geweihten Kerze hielt und die heißen Nägel in eine andere große Kerze hineinsteckte -, die schwarzen, ein halbes Jahrhundert alten Bänken, an denen die Jugendlichen in ihrer sich über Jahre dahinziehenden Langeweile während hunderter Messopfer, mit einem Feitel die dialektalen Worte für weibliche und männliche Geschlechtsteile „Fut“ und „Beitl“, durchpfeilte Herzen und Hakenkreuze eingeritzt hatten, der Mesner mindestens einmal im Jahr mit einem Tischlerhobel und mit pechschwarzem Lack die Schandtaten vertilgte und der Pfarrer am darauf folgenden Sonntagsgottesdienst, wenn alle in der Kirche waren, in seiner Predigt die Worte „Das ist Gotteslästerung!“ von der Kanzel donnerte und die erbleichten Jugendlichen wie vom Donner gerührt, bewegungslos, sich gegenseitig von den Augenwinkeln aus beobachteten und einander stumm die Schuld zuschoben für den Unfug, das Ende der Messe abwarteten, manche mit zitternden Beinen und auch nicht vergaßen, zur Kommunion zu gehen und mit dem sich mehr und mehr aufweichenden Leib Christi zwischen Zunge und Gaumen mit ihrer Sünde haderten.
2.
„Überhaupt die Kirche, unsre uralte Zeller Kirche! Wie viele unzählige Male nahm dieses dämmrige Gewölbe meine Seufzer, meine guten Vorsätze und meine Wünsche entgegen, bald schweigend abweisend, bald auch wieder in meiner Einbildungskraft wie gewährend; und oft hat es mein junges Herz in mystischer Erhebung und wahrhafter Einkehr gesehen.“ Und wenn ich in Klagenfurt die nach Weihrauch duftende Stadtpfarrkirche betrete und – wie immer – schnurstraks auf einen Nebenaltar zugehe, wo in einer Gruft der Dichter Julien Green begraben liegt, mir seinen verfallenden Körper unter der schweren Marmorplatte vorstelle und ich ihm, wenn ich um Worte ringe, immer wieder auf den Fersen bin, immer auch seine erzkatholische Mutter vor mir sehe, die an einem Abend, als der halbwüchsige Julien die Hände unter der Bettdecke hatte, mit gezücktem Messer in der Hand, die Bettdecke wegriß und rief: „Julien! Wenn du das noch einmal machst!“ und der auch einst in der Wiener Albertina bei einer Ausstellung vor dem Bild „Der Todessprung“ von Alfred Kubin stand und in seinem Tagebuch vom 27. Oktober 1977 vermerkte: „Da ist allem, was lebt der Tod auf den Fersen. Manche Bilder sind so monströs, dass man, selbst wenn man wieder draußen ist, noch besessen ist von all diesen Greueln. Ein Mann stürzt wie ein Pfeil in einen struppigen schwarzen Abgrund, der nichts anderes ist als das weibliche Geschlecht zwischen zwei Schenkeln, dick wie Berge, die auseinandertreten, um die Beute zu verschlingen.“ Man sieht auf der Federzeichnung „Der Todessprung“ groß im Vordergrund den Torso eines weiblichen Unterkörpers, die auseinandergespreizten, üppigen Oberschenkel einer Frau, die offene, dunkle Scheide als Schwarzweißbild mit grauschwarzen Schamlippen, umgeben von dunklem, hochgebürsteten Haarwuchs. Vom Kopf der rücklings auf dem Boden liegenden Frau sieht man nur den unteren Teil des Doppelkinns und den Hals ohne Kehlkopf. Bauch, die an den Rändern hervorstehenden Brustkorbrippen und die höherstehenden Brüste sind als Schneefeld gezeichnet. Zwischen den auseinandergebreiteten Oberschenkeln, „als Pfeil“, um die Worte von Julien Green zu gebrauchen, ein mit ausgestreckten Händen und Füßen nach unten auf die geöffnete Scheide kopfüber zutauchender, winziger, zündholzdünner Mann, an dessen Hüften man auch das waagrecht wegstehende männliche Geschlechtsteil sieht. Und wenn ich mich zurücklehne und die Zeichnung „Der Todessprung“ von einem zehn, zwanzig Zentimeter größeren Abstand sehe, glaube ich, an den Frauenoberschenkeln im Augenwinkel meiner leichten, optischen Kurzsichtigkeit die hochlaufenden Striche dieser Federzeichnung als fliehende Ratten zu sehen, Ratten, die auf den Berg der angewinkelten Oberschenkel hinauflaufen und sich auf den, in der Zeichnung unsichtbaren Kniescheiben auftürmen, übereinandersteigend, sich aneinanderkrallen, bis die wieder gemeinsam über die Schienbeine hinunterrutschen zu den Füßen und ihre Schwänze hin- und herschlagend, an Frauenzehen knabbern, Ratten, die immer wieder in den Zeichnungen von Alfred Kubin vorkommen, die auch Julien Green am Beispiel einer anderen Zeichnung so beschrieben hat in seinem Tagebuch, als er in der Albertina in Wien durch eine Kubin-Ausstellung ging: „Was soll ich noch anführen? Das Rattenhaus. Es ist ganz einfach, ganz weiß steht es da in der Nacht, und aus der geöffneten Tür entweicht wie eine Flut dieses schnelle Ungetier, dessen teuflische Intelligenz man spürt. Sie rennen der Nase nach, in alle Richtungen, zu Tausenden, um die Welt zu erobern. Übervoll des Grauens strebe ich dem Ausgang zu.“ „Einige meiner Kameraden waren Ministranten; ich zog mit am Seil der großen Glocke, trat den Blasebalg der Orgel, wirkte eifrig als Sänger und langweilte mich auch sehr oft bei den endlosen Zeremonien.“ Bei dieser Passage aus den autobiographischen Schriften von Alfred Kubin erinnerte ich mich an einen Frühlingsnachmittag, als an der Friedhofsmauer bereits die gelben Himmelsschlüssel, die violetten Krokusse und die Veilchen blühten, als die Kirchentür sperrangelweit offen stand, die Mesnerin den Frühjahrsputz machte, den Ratten- und Mäusekot zusammenkehrte, den Steinboden aufwischte, die Heiligenfiguren mit einem Staubwedel, an dem ein dickes Büschel Pfauenfedern aufgebunden war – wir hatten zwei Pfauen im Dorf -, sorgfältig entstaubte, den Heiligenschein auf den Köpfen der Heiligenfiguren, die Kniescheiben und die Achseln der Heiligengestalten, und wir uns eingeschlichen hatten mit unseren selbstgemachten Steinschleudern, Astgabeln von den Haselnußsträuchern neben dem Friedhofsabfallhaufen, den Lederfleck aus getrockneten Speckschwarten, die wir wiederum mit Schweinefett geschmeidig machten und Jagd machten nach den Kirchenratten, die wir im Glockenturm aufstöberten und nach unten trieben, hinter den Altar und in die Sakristei und die Leiche im Weihwasserbecken entsorgten, der Mesner am nächsten Morgen die ertrunkenen Ratte, wie er glaubte, verschwinden ließ, ohne etwas von einem Lausbubenstreich zu ahnen. „Die Zeichnungen in der Albertina sind, wenngleich sie schon seine ganze Könnerschaft bezeugen, Jugendwerke. Die Halluzination spielte eine entscheidende Rolle. Er war absolut ungläubig und ein großer Nietzsche-Verehrer. Trotz seiner Weltsicht, die schlichtweg grauenvoll war, zeigt er sich stets auffallend gutgelaunt“, schreibt Julien Green über Alfred Kubin, der Bücher von Green gelesen und, wie er dem Künstler Fronius erzählte, auch sehr geschätzt haben soll. Und: „Na, so was! Das kommt mir bekannt vor. Man befreit sich von seinen Phobien bei der Arbeit, und dann geht es einem wieder bestens. Fachleute mit Vorliebe für das Griechische nennen das Katharsis“, so Green.
3.
Erst zwei Jahre nach der Geburt von Alfred Leopold Isidor Kubin, kehrte sein Vater Friedrich Franz Kubin, der als kaiserlich-königlicher Landvermesser im Staatsdienst war, von einem langen Aufenthalt in Dalmatien, dem „halbvergessenem Lande“, nach Salzburg zurück, wo ihn der Sohn das erste Mal zu Gesicht bekam: „In unserem neuen Wohnort, an dem Mama sich mit mir gerade gemütlich eingerichtet hatte, brach er eines schönen Tages als ein missliebiger Mann herein. Durch eine rote Dalmatinermütze versöhnt besänftigte sich bald meine Eifersucht und wir schlossen – mit Vorbehalt – Frieden.“ Nach eigenen Worten soll Alfred ein wildes Kind, ein Schreihals und eine Zeitlang ein kleiner Tierquäler gewesen sein, der „Folterszenen an armen kleinen Tieren veranstaltete“, der sich in keine Gemeinschaft eingliedern konnte und dem jeder Zwang verhaßt war, Kirche und Schule also legten, um seine Worte zu gebrauchen, der „kindlichen Bestie unzerreißbare Zäune an“. Zehn Jahre war er alt, als er von einer älteren, hochschwangeren Frau verführt und sexuell mißbraucht wurde, und in seinem elften Lebensjahr starb seine Mutter an Schwindsucht. Es war der erste Mensch, berichtete er, den er sterben sah, er war dabei, als seine Mutter die Letzte Ölung bekam und als sie sich von ihren Angehörigen für immer verabschiedete. Verzweifelt hob sein Vater die „lange Leiche der abgezehrten Frau“ aus dem Bett und lief damit, Hilfe schreiend, wie verrückt, immer wieder in der Wohnung auf und ab. „Im elften Jahr war ich dabei, wie meine Mutter starb…wie nach ihrem Segen und den Abschiedsworten an mich plötzlich ihr vertrautes Gesicht spitz und fremd wurde…Ich stand im Verlauf meines späteren Lebens noch oft an Sterbebetten, aber was ich da sah, konnte den Eindruck jenes ersten Sterbens nicht mehr beeinflussen.“ Nach dem Trauerjahr heiratete der Vater die Schwester von Alfreds Mutter, aber bereits nach zwölf Monaten starb Alfreds Stiefmutter im Wochenbett. Sein verzweifelter und unglücklicher, einsam gewordener, mit dem Schicksal hadernder Vater, verlor nach dem Tod seiner beiden Frauen den Glauben an Gott, an die Welt und an seinen Sohn, dem er nur mehr mit Ablehnung und Misstrauen begegnete, bei jeder Gelegenheit züchtigte, selbst dann, wenn Alfred nichts als kindliche Glücksgefühle zeigte oder wenn er nur lachte, aber nichts verbrochen hatte, er durfte seinem Vater nicht mehr unter die Augen kommen, durfte ihm weder beim Vogelfangen, noch beim Blumenzüchten helfen. Auch die Amme von Alfreds jüngster Schwester, eine „rohe Bauernmagd“, die den Haushalt der mutterlosen Familie führen sollte, aber nur verwahrlosen ließ, verleumdete den jungen Alfred auf die schamloseste Weise wegen Kleinigkeiten bei seinem Vater, der ihn wiederum, ohne nachzufragen, bitter bestrafte mit Ohrfeigen und Stockhieben. „Jetzt, wo ich bei keinem Menschen mehr Zuflucht fand, wo Christus und alle Heiligen taub blieben, wurde ich vollständig verstockt, ließ mich mit eingezogenem Kopf schlagen und fühlte nur Haß, Haß, Haß gegen meinen Vater und gegen alle Menschen im Herzen. – Oh, wenn ich sie nur hätte ermorden können!“ Da er in dieser „Höllenperiode“ auch seinem leiblichen Vater aus dem Weg gehen musste, vereinsamte er vollkommen, zog sich von den Lebenden zurück, ging bereits in der Morgendämmerung, als die anderen noch schliefen, in die Berge, ließ sich von Naturkatastrophen, von Gewittern, Häuserbränden, reißenden und über die Ufer tretenden Wildbächen faszinieren, war bei Raufereien und auf Viehmärkten anzutreffen, ließ sich von den durchs Dorf marschierenden uniformierten Truppen und von Kaiser Napoleon begeistern, den er, wie „einen Halbgott“ verehrte, bedauerte auch, dass Napoleon kein Österreicher war. Der vereinsamte und scheu gewordene, zwangsläufig seine Familie meidende Außenseiter, befreundete sich mit einem anderen Außenseiter, dem Fischer Hölzl, seinem „Gönner, Totengräber und Allerweltsgenie“, wie er ihn nannte, der immer wieder Leichen aus dem See zog, die Alfred neugierig bestaunte, er ging zu den Fleischhauern und Schindern und schaute ihnen beim Töten, Schlachten und Ausnehmen der Tiere zu. „Die starr bohrenden Blicke meines Vaters im Zorn, das schreckliche Grinsen meines bestgehassten Lehrers, solche Eindrücke kann ich nicht vergessen, ich kann nicht darüber hinweg und versuche, mich in Bildern von immer neuen Physiognomien von dem Rest der Angst, die unbewußt in mir haust, zu lösen.“ Von seinem Vater wurde der unangepaßte Sohn, Nichtsnutz, Schulversager und Herumstreuner, der sich gerne am sandigen Seeufer aufhielt, der alleine durch die Scheunen, Ställe, Fischerhäuser und Mühlen seines Heimatdorfes Zell am See streifte, dem in seiner Einsamkeit und Verlorenheit der Wald als eine „einzige, mit Moos ausgepolsterte Wohnung“ vorkam, nach Salzburg in eine Kunstgewerbeschule gebracht mit der Ermahnung in eine Besserungsanstalt geschickt zu werden, wenn er nicht parieren, keine Erfolge vorweisen könne, er sollte Stukkateur oder Holzschnitzer werden. Zwei Jahre lang besuchte er wohl „mit Fleiß“ die Gewerbeschule in Salzburg, begann zu zeichnen und kritzelte die Ränder seiner Schulbücher mit Zeichnungen von „Kriegszügen, Jagden, Torturen“ voll, aber auch die Staatsgewerbeschule sollte er verlassen, denn außer einem „Lobenswert“ in der Naturlehre hatte er nur schlechte Noten im Abschlusszeugnis.
4.
Alfreds Vater, der zum dritten Male heiratete, nämlich „ein Fräulein aus Klagenfurt“, schickte seinen Sohn daraufhin zu seinem Onkel Adolf Beer, einem Landschaftsfotografen nach Klagenfurt. Bei der Fotografenlehre in Klagenfurt, in der St. Veiter Straße 24, wenige hunderte Meter, einen Pistolenschuß von der Stadtpfarrkiche entfernt -, wo an einem Nebenaltar unter einem traurigen Bildnis der Schmerzensmutter, in einer Gruft, seit über zehn Jahren Julien Green ausharrt und auf seine glorreiche, den Himmel bestürzende Auferstehung wartet, in Klagenfurt also, wo sein Lehrherr und Onkel, der Landschaftsfotograf Adolf Beer, sein Atelier hatte, der meistens für Fotoaufnahmen unterwegs, kaum anwesend war in der Fotowerkstatt, bekam er von den älteren Angestellten vor allem Haushaltsarbeiten zugewiesen, lernte nichts für seinen zukünftigen Beruf, war auch innerhalb dieser vier Jahre nicht imstande eine Fotografie in der Dunkelkammer herzustellen. Der mechanischen und uninspirierten Tätigkeit des Entwickelns und Retuschierens von Bildern, die sein Onkel von seinen langen Reisen ins Studio schickte oder in die Werkstatt brachte, wurde er bald überdrüssig. „Und erst nach vielen Jahre, als ich die Leiter einiger Reproduktionsanstalten von Weltruf freundschaftlich kennen lernte, machte ich mich nebenher fast spielend mit allem Wesentlichen dieser schönen Techniken vertraut. Dafür machten in Klagenfurt allerdings meine Kenntnisse des allgemein menschlichen Wesens rasche Fortschritte. Aus meiner seltsamen Zwischenstellung, Neffe und zugleich Lehrbub erwuchs ein dauernder Zwang, in welchen bei der Stupidität meiner Handlangerarbeit jede wirkliche Lust zum Fotografenberuf zugrund ging.“ In dieser Zeit der Langeweile und Ratlosigkeit überkam den inzwischen neunzehnjährigen Alfred Kubin das „Lesefieber“, vor allem Nachts, bis in die frühen Morgenstunden las er den einen „spannenden“ Roman nach dem anderen, ließ sich von Schopenhauer berauschen – „Die Welt ist eben die Hölle und die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin“, so Schoppenhauer -, kaufte sich ein Fahrrad, um in der Umgebung von Klagenfurt auf Touren gehen zu können und beherbergte Ungeziefer, Schlangen, Würmer und Käfer in seinem Zimmer. Der Einzelgänger, der auch kein kameradschaftliches oder freundschaftliches Verhältnis zu seinen Mitarbeitern im Fotoatelier aufbauen konnte, durchbummelte, von Gasthaus zu Gasthaus streifend, in einem „zügellosen Jahr“ die Nächte, bis er ausgelaugt war, seine Kräfte nachließen und er zu kränkeln begann, sich von mal zu mal sein Gesundheitszustand verschlechterte und ihn ein „böser Katzenjammer“ überfüllte. Er ließ sich schließlich auch noch auf die Experimente eines Hypnotiseurs ein, die ihn zwar begeisterten, durch die aber, da er sich dabei besonders engagierte – durch die Suggestion hatte der Zauberer den Jugendlichen „nach einigen Minuten vollständig unter seinen Willen gebracht“ -, schließlich seine Nerven noch mehr strapaziert wurden, er noch nervöser und verworrener wurde, sich auf rabiate Weise mit seinen Kollegen in der Fotografenwerkstatt seines Onkels stritt, bis er immer unzufriedener und verzweifelter wurde und schließlich mit zerrüttelten Nerven seinem unnützen und verpfuschten Leben, wie er es nannte, ein Ende machen wollte. Er trieb einen alten Revolver auf, setzte sich in den Zug, fuhr an den Ort seiner Kindheit, nach Zell am See, einem Hochgebirgsdorf in Salzburg, um sich am Grab seiner Mutter zu erschießen. Wegen Hochwasser blieb der Zug zwischen den überfluteten Gleisen stecken und verspätete sich zwei Tage. Schließlich nachts am Grab seiner Mutter angekommen, betete er zuerst „zum lieben Gott“, bat vor dem Grabhügel stehend, seine Mutter, dass sie ihm doch die nötige Kraft geben möge, damit er einen endgültigen Schlussstrich unter sein Leben machen könne, zögerte und wartete das Läuten der Kirchenglocken in der Hoffnung ab, dass ihm vielleicht doch jemand zu Hilfe eilen und ihn am Selbstmord hindern könnte. Um nicht das Gehirn zu verfehlen, um nicht womöglich als geistiger Krüppel und körperliches Wrack vor dem Grab seiner Mutter aufgelesen zu werden, kennzeichnete er mit einer Nadel seine rechte Schläfe, bevor er den Pistolenlauf ansetzte und abdrückte, aber die eingerostete Waffe funktionierte nicht, beim zweiten Mal fehlte ihm die „seelische Kraft“. In einem erbärmlichen Zustand verließ er den Friedhof, übernachtete in einem Gasthaus, ging schließlich reumütig zu seinem Vater, der ihn ohne gröbere Vorwurfe wieder nach Klagenfurt zurückschickte. Sein Onkel, der inzwischen von einer Reise zurückgekehrt war und von Alfreds Arbeitskollegen von der Flucht seines Neffen unterrichtet wurde, kündigte ihn noch am selben Tag, stellte ihm aber ein positives Zeugnis für die Fotografenlehre aus. Nach dem gescheiterten Selbstmordversuch meldete sich Alfred freiwillig zum Militär, wo man ihn wegen seiner schwächlichen Konstitution nicht rekrutieren wollte, aber als er schließlich bei der Musterung in strammer Haltung und splitternackt vor dem vorsitzenden Stabsoffizier stand und wortreich beteuerte, dass er gerne Militärkartograph werden möchte, wurde er aufgenommen, aber bereits nach ein paar Wochen, als er die Leichenfeier und das Begräbnis eines verstorbenen Divisionskommandanten besonders würdig und perfekt gestalten wollte, aber bereits bei der Organisation durch „nervöses Gebaren“ auffiel, bekam er, der nicht zum Begräbnis gehen durfte, einen schweren Nervenzusammenbruch und musste nach einem Deliriumsanfall – er bildete sich ein, ein bourbonischer Prinz auf der Insel Borneo zu sein – vier Monate lang im Garnisonsspital untergebracht werden. Nach dieser neuerlichen Krise wurde er wieder von seinem Vater aufgenommen. Als Rekonvaleszent in sein Elternhaus in Zell am See zurückgekehrt, wo er ein Jahr lang blieb, begann er zu zeichnen und Bilder aus illustrierten Zeitungen zu kopieren, so dass ihm der inzwischen verwandelte gutmütig gewordene Vater, der unter der Nervenkrankheit seines Sohnes gelitten haben dürfte und „vielleicht in ihr die Strafe des Himmels für seine Härte dem einzigen Sohn gegenüber“ sah, nach Anraten eines kunstsinnigen Freundes der Familie, als letzten Ausweg die Erlaubnis gab, in München Kunst zu studieren.
5.
Zuerst besuchte Alfred Kubin, der für diese weitere Ausbildung mit einer kleinen Gelderbschaft seiner Großeltern ausgestattet wurde, in München die private Malschule von Ludwig Schmidt-Reutte, danach wurde er in die Bayrische Akademie der bildenden Künste aufgenommen und „schweifte mit übervollem Herzen“ in München umher, wo er sich, im „Gegensatz zur bösen Vergangenheit“ das erste Mal in seinem Leben frei fühlte, ihm niemand etwas vorschreiben konnte, eine „lange, schöne Zeit“, wo viel gemalt und gefeiert wurde und wo er sich in einem Künstlerfreundeskreis integrieren konnte. „Fleißig studierte ich die Poesie der dunklen Höfe, der verborgenen Dachkammern, der schattigen Hinterzimmer, staubigen Wendeltreppen, verwilderten Gärten, die blassen Farben der Ziegel und Holzpflaster, die schwarzen Schlote und die Gesellschaft der bizarren Kamine.“ Da seine erotischen Wünsche und sexuellen Begierden den Schwabinger Künstlerkollegen nicht verborgen blieben, wurde er einmal in der Faschingzeitung der Sturmfackel von 1902 als „Perversus/Onanos“ karikiert. Innerhalb eines Jahres brach der Varietébesucher Alfred Kubin das Kunststudium ab, nachdem er in München im Kupferstichkabinett von Max Klinger den Radierzyklus „Paraphrase über den Fund eines Handschuhs“ gesehen hatte, sich vollkommen verzaubern ließ und schaffte „förmlich genotzüchtigt von einer dunklen Kraft“ in lange anhaltenden rauschhaften Zeichenschüben, die einen „Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder“ hervorbrachten in den darauf folgenden Jahren sein aus einer großen Anzahl von Blättern bestehendes alptraumhaft-phantastisches Frühwerk, tausende gottlose Notschreie, „Wunderräusche“, wie er sie nannte, von in dieser Zeit in der europäischen Kunst unbekannter Schonungslosigkeit mit seinen ikonografischen Vorbildern: Goya, Klinger, Hokusai, Meyrink und Kafka. „Doch lieber wollte ich zugrunde gehen als etwas Unoriginelles schaffen“, lautete die malerische Devise von Alfred Kubin. Der Philosoph Otto Weininger, der das berühmte Buch „Geschlecht und Charakter“ schrieb, der sich im Jahre 1903 im Alter von 23 Jahren im Sterbehaus Beethovens in Wien das Leben genommen hatte, galt für Alfred Kubin zu dieser Zeit als der „größte Menschen des Jahrhunderts“, er seinem Freund und Schriftsteller Fritz von Herzmanovsky-Orlando schrieb. „Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine Verfassung eingeführt zu haben. Aber es geht darin zu, wie in Österreich“, schrieb Karl Kraus über Siegmund Freud. In dieser Zeit, im Jahre 1903, ereilte ihn wiederum ein Schicksalsschlag. Kaum hatte der Fünfundzwanzigjährige bei den Verwandten um die Hand seiner zukünftigen „Braut“ angehalten, starb seine Freundin Emmy Bayer nach einem zehntägigen Krankenhausaufenthalt in einer Münchner Klink an Typhus. „Als ich an der Leiche stand, begriff ich mit einem Schlag, dass das höchste Glück für mich auf alle Zeiten dahin war. In grenzenloser Verzweiflung wollte ich schreien, brachte aber keinen erleichternden Laut hervor. Furchtbar öd und leer erschien mir mein Dasein fortan; ich verlor allen Lebensmut und vergeudete meine Ersparnisse sinnlos, weil sie mir nun doch keinen Zweck mehr zu haben schienen. Dabei peinigten mich fortwährend die Erinnerungen an das blühende, junge Geschöpf, die wie durch bösen Zauber von mir genommen worden war. Extravaganzen und Ausschweifungen folgten in wilder Reihe, ich zog mich von allen Bekannten zurück und ließ meine Angelegenheit drunter und drüber gehen.“
Ein halbes Jahrzehnt später, im Jahre 1907, nach der ersten Stockung seines künstlerischen Schaffens und nach dem Tod seines Vaters, von dem er sich tief betroffen zeigte, mit dem er seit seinem Abgang nach München ein freundschaftliches Verhältnis pflegte und das er nach seiner Übersiedlung nach Österreich, ins oberösterreichische Dorf Zwickledt, wo er bis zu seinem Tod blieb, noch vertiefen konnte, reiste er mit Herzmanovsky-Orlando durch Oberitalien und nach Venedig. „Voll Eile und Sehnsucht kam ich zu Hause an. Als ich dann eine Zeichnung anfangen wollte, ging es absolut nicht. Ich war nicht imstande, zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen…Diesem neuen Phänomen stand ich erschrocken gegenüber, denn ich muß es wiederholen, ich war innerlich ganz und gar mit Arbeitsdrang gefüllt. Um nur etwas zutun und mich zu entlasten, fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschrieben“. Innerhalb von drei Monaten, im „Wendepunkt einer seelischen Entwicklung“ schrieb der stets von neurotischen Zusammenbrüchen bedrohte Künstler, der zeitlebens von der ödipalen Begegnung mit seinem Vater als Zweijähriger, von einem Totschlag, den er als Kind auf der Straße gesehen hatte, vom schrecklichen, frühen Tod seiner an Schwindsucht verstorbenen Mutter und dem mit dem dünnen Leichnam hysterisch schreiend durchs Haus laufenden Vater und von der ersten sexuellen Erfahrung als Elfjähriger mit einer hochschwangeren Frau belastet blieb, von einem inneren Drang, Tag und Nacht zur Arbeit gepeitscht, wie er sich ausdrückte, seinen phantastischen Roman „Die andere Seite“, den er im darauffolgenden Monat illustrierte und der bei seinem Erscheinen von Max Dauthendey, Stefan Zweig, Franz Blei, Ernst Jünger und von Franz Kafka – Kubin besuchte einmal Kafka – gelobt wurde. Wassily Kandinsky schrieb an Kubin: „Wie können Sie denn nur eine Seite des ‚Lebens’ fühlen? Wodurch bleibt die andere für Sie verdeckt? Oder besser: warum sehen sie nur Die andere Seite? In diesem famosen Buch haben Sie tausend mal Recht. Es ist beinahe eine Vision des Bösen. Sie müssen aber jetzt Ihrer Wachspuppe den Kopf abschlagen u. mit Füßen zertreten zu Staub. Aber da Sie so stark den Bösen gesehen haben, so kommen Sie ganz bestimmt auch zum anderen Sehen. Das fühle ich plötzlich ganz deutlich.“
„Ich gehe noch weiter“, schreibt Julien Green in seinem Tagebuch vom 27. Oktober 1977, nachdem er in der Albertina in Wien eine Ausstellung mit Bildern von Alfred Kubin gesehen hatte, „und sehe einen Mann, der sich umbringt, geblendet von einer Frau, die die Röcke hochgerafft hat, um ihm ihr Geschlecht zu zeigen. Man gerät an die Grenze des Ekels, doch unbestreitbar ist das Talent des Künstlers, eine Kraft, die einen in Bann schlägt. Wo bleibt die Liebe bei alldem? Sind wir auf dieser Welt oder in der Hölle?“ Na, so was, das kommt mir bekannt vor, Monsieur Green! Der Vater, der sein Kind mit Füßen treten will, ziehe zuvor die Schuhe aus, sonst schwärzt ihm der Teufel die Fersen, heißt es im Aberglauben. Vom Bilwis geht die Sage, dass er Sicheln an den Füßen habe. Ein Bild von Alfred Kubin, eine Tuschzeichnung mit dem Titel „Die Dame auf dem Pferd“ zeigt eine herrische, auf einem Schaukelpferd sitzende, schwarzgekleidete Frau mit schwarzem Zylinder, schwarzen, über ihrem Nacken stehenden Haarknoten, die eine Reitpeitsche an ihre Hüften drückt. Das Schaukelpferd mit seinen aufgeblähten, wild schnaufenden Nüstern, mit dem Pferdegebiß seines Ober- und Unterkiefers und seinen hervorstechenden Augäpfeln, ist mit seinen hufenbeschlagenen Füßen auf den großen Sicheln zweier Wiegemesser befestigt, das mit der schwarzgekleideten, auf dem Schaukelpferd wippenden, die Maske eines blassen männlichen Gesichts tragenden Reiterin kreuz und quer auf dem Boden liegende menschliche Körper zerschneidet und zerstückelt. Nach dem Fußwaschen, Monsieur Green, soll man die Füße nicht mit einem Tuch abtrocknen, man soll sie von der Luft trocknen lassen, sonst beginnt die Heilige Maria Magdalena zu weinen, die einst Christus die Füße, Zehen und die Fersen mit ihren Haaren getrocknet hat. In einzelnen Teilen Norddeutschlands hat sich der Brauch erhalten, dass an Fassnacht den jungen Mädchen von den Burschen des Dorfes die Füße gewaschen und gebürstet wurden oder dass die Burschen in die Zehen der Mädchen beißen. Monsieur Green! Nimm die Zunge eines Geiers und binde sie unter die linke nackte Ferse, nimm in deine rechte Totenhand eine Eisenkranzwurzel, richte dich auf in der Kirchengruft der Stadtpfarrkirche in Klagenfurt, einen Pistolenschuß von der St. Veiter Straße 24 entfernt, wo Alfred Kubin als Fotografenlehrling gearbeitet hatte, fahre mit deinem bläulich-gelben Zeigefinger die Sätze in deinem Tagebuch vom 27. Oktober 1977 nach und buchstabiere: „Ein kleines Bild etwas weiter, mit dem schlichten Titel Madame, zeigt eine sehr elegante Dame in langem schwarzen Kleid, die in einem Alptraumlächeln den Kopf abwendet, weil sie an einem Kronleuchter hängt.“ Und ich gehe weiter und kehre zum von Julien Green erwähnten Bild vom Mann zurück, der sich umbringt, „geblendet von einer Frau…“: Der Schuß ist gefallen, der Mann im Bild „Selbstmord“ liegt rücklings auf dem Boden. In seiner linken, ausgestreckten Hand ist die rauchende Pistole an seinem Zeigefinger hängengeblieben, der Kopf liegt in einer Blutlache, Blut rinnt aus seinem offenen Mund auf seine Achsel hinunter. Im Augenblick des Todesschusses ist aus der Seele des Mannes ein übergroßer, schwarzer, nun über den Unterschenkeln des Toten schwebender Luftballon gefahren – „Ich könnt aus der Haut fahren!“ -, auf dessen höchster Erhebung ein halsloser Schädel, eine Mischung aus einem Ziegenbock und einer Teufelsfratze mit Spitzbart und Hörnern, zu sehen ist, mit dem lüstern und zufrieden in der Ziegenbockschädelgestalt auf den Toten schauenden Teufel. Dem schwarzen Luftballon ist auch eine vor Entsetzen schreiende, über dem Toten schwebende Frau entwichen, die ihren Rock obszön in die Höhe hält und ihren in bis zu den Knien reichender Wäsche verpackten Unterkörper dem Selbstmörder präsentiert. „Der richtige Beschauer, wie ich ihn mir wünsche“, schreibt Alfred Kubin, „würde sich meine Blätter nicht nur genießend oder kritisch ansehen, sondern, wie durch geheime Berührung angeregt, müsste sich seine Aufmerksamkeit auch der bilderreichen Dunkelkammer des eigenen träumerischen Bewusstseins zuwenden. Denn wir alle, ob wir darum wissen oder nicht, bergen das Erbe einer ungeheuren persönlichen Vergangenheit zutiefst in uns. Die einstigen Erlebnisse – sie gehen oft bis auf die Zeit der dämmernden Kindheit zurück – sind nicht etwa vorbei oder tot, nein, sie gebären sich immer wieder neu, prägen sich in unsere Seele um und gehen zahllose Verbindungen mit den Eindrücken später dazugekommenen Erlebens ein.“