letzte höhlung
Vier Wasserwege im Supramonte © Adreis Echzehn
I. Wasser finden.
Nichts fließt mehr. Vor einer Stunde von einem Plateau mit Großsteingräbern abgestiegen in dieses expressiv gewundene Engtal, unten weiter zwischen Geröllriesen und reichschattiertem Grün, umfächelt von Kräuterduftluft, doch ist der Fluß stetig langsamer geworden, weniger.
Stilles Wasser jetzt. Und dann reißt ein kniehoher Rachen das felsige Steilufer auf, gähnt feuchtschwarzen Moosgeruch aus.
„Hier verschwindet es“, sagt Franco Murru, Hirtensohn, Wanderführer, Höhlenforscher, eingeborener Liebender des Supramonte.
Der Supramonte ist eine entlegene Karst-Berglandschaft im wilden Osten Sardiniens, unweit der Provinzhauptstadt Nuoro. Man kann sich hier auch ohne Führer ergehen; mit guter Wanderkarte, etwas Erfahrung und einer Prise Stehvermögens. Es gibt Wegzeichen, zuweilen gar Rundweg-Schilder. Doch jemand wie Franco kennt Orte, die man auch mit Karte kaum fände. Und wenn zufällig doch, fände man den Rückweg vielleicht nicht. Franco holt immer wieder mal irrende Menschen zurück in die bewohnte, geteerte, gefederte Welt. Der Supramonte lockt fast magisch. Besonders, wenn man dem Wasser folgt. Oder dessen Spuren.
Also weiter abwärts über trockene Steine, im Bett des verschwundenen Flusses. Dann legt Franco die Hand auf den Mund, ans Ohr.
„Dort unten fließt es jetzt.“
Wieder ein kniehoher Rachen, diesmal geröllaufreißend. Aus abgrundschlundiger Stille weht es herauf, dunkelmundiges Wispern.
Wenn man sich durch den Aufriss ins Erdinnere schiebt, schwillt das Wispern an zu drängendem Raunen, und nach einigen Metern steht man im unterirdischen Halbdunkel auf feinem Kies am verschwundenen Fluss. Eintauchen könnte man, sich mitreißen lassen, mit ihm wieder emporperlen ins Licht –.
Doch hätte man dann versäumt, wie wenig später auf der linken Steilflanke der Oberwelt jemand in der Macchia trappelt und kollert, wie ein Sprung Mufflons das Bett in hohen Bögen quert, zuletzt und umsichtig ein großer Widder. Man hätte auch nicht den flügelschlaglosen Zirkelschluss des Steinadlers gesehen, und wo der Fluß wieder auftaucht, und dass einem später der große Widder, ins Abendviolett skulptiert, vom Bergkamm aus zuschaut, ob man am Tagesetappenziel ins Zelt schlüpft oder ins Auto steigt, um in einem Agriturismo, einer Landpension zu nächtigen. (Jedenfalls schaut er solang zu, bis klar ist, dass man sein Hoheitsgebiet respektiere.)
II. Wasser folgen.
Anderntags opfert man einige Tropfen aus der Trinkflasche auf einem runden Trachitbecken, in das vor dreitausend Jahren das Wasser als Gottheit strömte. Es steht im Zentrum des Tempels von Sa Sedda ’E Sos Carros, einer Siedlung aus der bronzezeitlichen Nuraghen-Kultur, und der Weg dorthin führt durch das Lanaittu-Tal, in dem seit rund zwanzigtausend Jahren Menschen gehen, seit kurzem mit Schuhen.
Ein breites Tal, jedoch mit diskret von Felsformationen abgeschirmtem Zugang. Hat man den passiert, so öffnet sich die fast liebliche Hauptschlagader des Supramonte, mit Raum für Olivenhaine und üppigen Weidegrund. Dass hier immer schon Menschen gingen, ist klar. Wasserklar.
Wasser zieht an. Steinzeitler jagten hier Megaceros, Cynotherium und Prolagus (Urhirsch, Urhund, Urpfeifhase). Bronzezeitler bauten Häuser und bohrten Schwertklingen in geglättete Steinplatten, vielleicht auch zur Besänftigung der fließenden Gottheit. Archäologen entdecken Schwertklingen in Steinplatten und legen alte Steinleitungen frei, gespeist von heiligen Quellen.
Dorthin ist man jetzt selbst gegangen und gegangen, und wenn man ganz da ist, denkt man vielleicht daran, vor dem Eintreten in den Wassertempel die Schuhe auszuziehen. So könnten die Fußsohlen den Basaltboden spüren, kühl und glatt, und man würde vielleicht rasend schnell sehr alt und wieder sehr jung. Als Zeitreisender träfe man auf der nahen Bergspitze Tiscali die mythischen Ureinwohner Sardiniens, fast unangreifbar lebend dort oben, heruntersteigend nur zu Jagd und Wasserholen. Und im 19. Jahrhundert könnte man mit dem Banditen-Superstar Giovanni Corbeddu am Feuer sitzen, in seinem Grottenversteck am Rand des Tals.
Zurück in der Gegenwart, zieht man die Schuhe an und geht noch etwas weiter, zu einer halbgeheimen Grotte, von der eigentlich nur wenige Einheimische wissen dürften, dass in ihr fast jedes Jahr ein internationales Astronautenteam wochenlang isoliert wird, um tief unten das Verhalten in abgeschotteter Gruppe zu simulieren, für zukünftige Weltraum-Gänge.
Der Supramonte eröffnet Zeitraum-Gänge.
III. Wasser feiern.
Auf nächster Tagestour sich nähernd nun dieser himmelspaltenden Kerbe, die Du, Große Gestalterin, seit Jahrmillionen in den Kalkfelshorizont dort vorn fräst, schürfst, raspelst, wirbelnd hineinwäschst. Wohl hilft Dir der Bruder Wind, jedoch die Große Gestalterin hier bleibst ewig Du, o Wasser.
Man muss nicht beten beim Gehen. Manchmal ist Gehen wie Gebet, nicht anstößig auf dem Weg nach Su Gorropu, in eine der tiefsten Schluchten Europas, aufragend ihre vertikalen Hoheiten bis zu fünfhundert Metern, Prunkportal im Grenzwall des Supramonte, hin zum Meer der Ostküste.
Gehen, Sehen. Durch Steineichen-Wald, Wurzeln den wasserscharfen Fels umkrallend wie Steinkauzfänge eine graue Maus. Gehen, Spüren. Über eine Ebene, besteckt mit opalglasknochenklingenden Steinen. Gehen, Riechen. Vorbei an Kegelhütten aus Treibholz, kopfhoch für Hirten, hüfthoch für Halbwildhausschweine, nahbei eine Viehtränke, gespeist via Plastikschlauch aus einer Souterrain-Quelle. Gehen, Schmecken. Kurzrast an einer Jahrtausend-Eibe, süßrotes Beerenfleisch, Samenkern bitte ausspucken, weil fast so giftig wie nebenstehend der Gemeine Stechapfel, der nicht dem deutschen BtMG unterliegt, jedoch fehldosierende Triptouristen zuweilen ins letzte Gebet abführt.
Braucht man nicht, im berauschenden Angesicht der Pissenden Stute, einer aufgereckten Riesinnenspalte, sich öffnend weit über Menschen, inmitten lotrechter Felsflanke, am Weg in die Schlucht. In wasserreichen Monaten spritzt ein meterstarker Strahl hier waagerecht aus der Spalte, bestätigt die Namengebung und spült sich hinab in die Schlucht. In trockeneren Zeiten steigt man über ein Felsband zu, und aus der Pissenden Stute wird ein großer Verstärker, aus dem unerhörte Tonfolgen erklingen; komponiert, orchestriert und aufgeführt von der Lehrmeisterin Bachs und Cages (geschwänzt von Wagner) – ergo von Wasser, das streicht und singt und paukt, erdröhnend tief im Stein und noch tiefer verhauchend al niente.
Und dann ist man ganz unten in der Schlucht, und im Himmel oben neigen sich die Ränder der Schlucht zueinander, für den natürlichsten gotischen Spitzbogen, mächtiger als alles kathedraleske Menschenwerk: Wasserwerk.
Gehen, Stolpern. Ein Ammonit ist verrückt, erstmals seit Urzeiten.
IV. Wasser fühlen.
Soll man bis zum Ende gehen?
Ein Tor zur Unterwelt ist nicht leicht zu finden, öffnet sich vielleicht, baumbeschattet, am letzten Tage.
Der Zugänge ins Erdinnere sind viele im Supramonte, dieser idealen Karstlandschaft, unter deren Oberfläche sich riesige, großteils unerforschte Grottensysteme erstrecken. Doch liegen die Zugänge meist versteckt, von Höhlenforschern wie Franco markiert mit kleinen Metallplaketten. Und selbst wenn man durch glückliche Fügung eine solche entdeckte, beschirmt von überhängendem Gestrüpp im schroffen Hang einer vergessenen Senke, so bliebe das Innere meist verwehrt; weil man etwa das geschälte Korkeichen-Stämmchen übersähe, das versteckt in der Nische kurz hinterm Einstieg lehnt, zu nehmen als Leiter für den Aufstieg durch eine kaminartige Öffnung, über der sich ein Tropfsteinsaal weitet, die Wandungen und Wölbungen und Säulen und Pfeiler und Baldachine glitzernd im Helmlampenlicht wie Ali Babas Höhlenschätze.
Und irgendwann sind die anderen abgebogen in einen Nebensaal, und man ist allein in einem Gang, umschlossen von organisch gewelltem Stein, durch Wasser samtig geschliffen, und man geht weiter ins Innere, ganz allein in der eigenen Unterwelt, und es ist gar nicht so schlimm wie man immer dachte – nein, es ist wundersam schön und vertraut, und Schleuderzungen-Salamander der Nur-Hier-Art Speleomantes genei haften für Dich an der Grottenwand und werden für Dich wohl auch ihre endemischen Zungen schleudern, wider Deine rein persönlichen Dämonen, die vielleicht doch schon hinter dieser nächsten Kurve lauern; und nach vielen Kurven führt Dich der Gang leicht aufwärts, und hinter einem fast durchsichtig dünnen, halb hochgerafften Vorhangschleier aus schimmerndem Stein, der subjektiv mitschwingt, als Du unter seiner Kante durchtauchst – hinter dem Schleier ist es wärmer, und der Gang weitet sich zur letzten Höhlung, weil das Wasser einen einstmaligen Fortgang in höllische Untiefen selbst abgeschlossen hat, mit Sediment.
Am Ende mit Sentiment.
Glatt ist die Rückwand zum Jenseits, nur in ihrer Mitte nimmt etwas Gestalt an, wie geschaffen fürs Altarretabel einer spätbarocken Fußwallfahrtskapelle, jedoch ganz natürlich hier in dieser Apsis: zwei erhabene Figurinen, von ewiger Strömung aus dem Stein modelliert als Halbrelief, menschlichgestaltig, Köpfe einander zugeneigt, zusammen fließend, ein Liebespaar, sicher.
Hier ruht man, Wasser sei Dank.