berger / janke- de_martin: bricolage
„… Ich habe so eine Bastelmethode, ich schreibe meine Texte eben nicht vom Anfang bis zum Ende durch, sondern ich schreibe am Anfang etwas, in der Mitte etwas, am Ende etwas, und manchmal schreibe ich zwei, drei Sachen gleichzeitig, und wenn ich an einer Stelle nicht weiterkomme, quasi wie ein gelangweilter Handwerker – so, das lasse ich jetzt, es wird morgen wieder weitergehen …“
Wilhelm Berger, interviewt am 26.01.12 von Janina Janke und Maurice de Martin, Dauer 1:18 Std
J.J.: Wir haben da ein paar Fragen an dich, ganz spontan und schnell zusammengestellt, deswegen wird das auch eine lustige Reihenfolge, aber das nehmen wir jetzt mal als Prinzip, oder? Dürfen wir jetzt so richtig reinspringen? Wie bewahrst du deine Ideen im Prozess der Arbeit?
W.B.: Es gibt ja bei Karl Marx diese Unterscheidung zwischen produktiver Arbeit und Hausarbeit, und ein Großteil meiner Tätigkeit ist im Grunde Hausarbeit, und das ist bei Karl Marx, dass man sagt, es wird das Geschirr abgewaschen und am nächsten Tag ist es wieder schmutzig (J.J. lacht), im Grunde ist die eine Geschichte, dass das bleibt, ist dass irgendwelche Prozesse auf Dauer kommen, aber das kann ich nicht dokumentieren, das hängt oft damit zusammen, dass ich, wenn ich zum Beispiel gefragt werde, was hast du heute getan, dir nicht wirklich sagen könnte, was ich getan habe, stattdessen sagen würde, ich bin von acht Uhr in der Früh bis 16 Uhr oder bis 18 Uhr im Büro gesessen und habe etwas getan, und ich kann dir genau sagen, was das ist, das ist diese Hausarbeit, und das andere ist die produktive Arbeit, das ist leider ein kleinerer Bereich im Vergleich zu dieser Hausarbeitstätigkeit, und das bewahre ich eigentlich in sehr modernen und gleichzeitig sehr konventionellen Formen, ich habe einerseits natürlich den Computer, in dem ich das alles bewahre, als Texte, und ich habe sehr viele Notizen, auf oft kleinen Zetteln, und die bewahre ich in Mappen, ich habe, wenn ich einen Text schreibe oder wenn ich ein Buch schreibe habe ich vielleicht 30, 40 Mappen, und da tu ich das immer rein, und sammle das quasi so wie in einem Sammelkorb, und versuche dann das immer mehr zu systematisieren, im Zuge von so einer Basteltätigkeit, wobei das Bewahrte ist dann das Ergebnis, diese Zettel verschwinden dann wieder im Ergebnis, so versuche ich das zu bewahren, für unseren Kontext oder für eure Frage ist natürlich das Zweite vermutlich wichtiger als diese Hausarbeit.
J.J.: Aber wie viel Prozent nimmt die Hausarbeit ein, im Vergleich zur produktiven Arbeit?
W.B.: Bei mir sicher 60 Prozent, das ist ja eben meine These, dass dieses System oft dazu dient letztlich gar keine Ergebnisse zu produzieren, sondern die Tätigkeit zu neutralisieren, Energien zu neutralisieren, und wenn dann Ergebnisse vorliegen, diese Ergebnisse irgendwo verschwinden zu lassen, so empfinde ich dieses System, und ich beneide eigentlich Künstlerinnen und Künstler immer darum, dass die dann wirklich das so anschauen können, was sie da haben, ich meine, ich habe gottseidank auch bestimmte Dinge, die ich anschauen kann, das sind dann halt Bücher.
M.M.: Das ist eigentlich dann auch schon fast so ein autopoetisches System, es generiert sich aus sich selbst raus, und ist eigentlich nur für sich selbst auch da.
W.B.: Das Ergebnis ist eigentlich bei mir immer ein Text, oder eben, wenn es auch schön ist, ein Prozess, und so ein Prozess, wie wir den haben, da bin ich immer völlig im Unklaren, wie man dann diesen Prozess bewahren oder dokumentieren kann auf der Prozessebene, es kommen natürlich aus den Projekten dann Ergebnisse raus, und ihr habt eine Ausstellung oder es gibt ein Buch oder irgendwas sonst, aber wie kann man das auf einer Prozessebene bewahren, wie kann man zum Beispiel die Fülle dessen was wir bis jetzt an Ideen und an Materialien haben, und wir haben ja wirklich Stunden aufgenommen, wir haben ja auch schon Interviews gemacht, wie kann man das so bewahren, dass es auch lesbar und verwendbar wird für uns selber und für andere, das ist denke ich mir, auch eine Forschungsfrage, die man in dem Kontext haben kann, wenn man so arbeitet, wie wir arbeiten.
J.J.: Das heißt, es ist auch immer ein Kampf gegen die Masse, die man produziert? Auch wenn du vierzig Mappen hast, als Bild für mich, fühlst du dich überfordert von diesen vierzig Mappen, oder?
W.B.: Nein, nicht wirklich, ich bin eigentlich froh wenn die da sind, ich finde, Fülle ist viel besser, als dass du nichts hast oder das wenig da ist.
M.M.: Das ist dann eher so wie ein Bergbau, wo du weißt, da ist im Gestein unglaublich viel, und du musst, egal wo du reinbohrst, du kriegst da sofort die Quelle, kommst an die Quelle.
W.B.: Genau, das empfinde ich eigentlich auch als glücklichen Zustand, weil ich habe, wie ich begonnen habe zu schreiben, immer das Problem gehabt, ich habe zu wenig gehabt, und das hat sich dann mit der Zeit gewandelt, und jetzt habe ich plötzlich extrem viel, ich hätte auch unheimlich viele Pläne, die ich noch ausführen könnte, und ich bin eigentlich glücklich darüber, ich beklage mich ja nicht, aber es ist eine Schwierigkeit, eine systematische.
J.J.: Aber die bedrücken dich auch nicht, so dass du weißt, du hast da noch so eine Masse, und das würde dich alles interessieren, und das lauert immer so?
W.B.: Nein, ich bin eigentlich glücklich damit.
M.M.: Hast du schon einmal an Auslagern gedacht, wenn ich jetzt gleich einmal direkt von der Kunst ausgehe, viele berühmte Künstler haben ein Team, die haben Ideen, und die geben an ihre Assistenten oder an ihre Subkünstler die Ideen weiter, und lassen die eigentlich diese Ideen ausarbeiten, und kommen ab und zu, schauen einmal drauf, sagen, da änderst du mal wieder was, und so produzieren die oft auch Masse, Leute wie Damien Hirst und so weiter, oder auch im Theater, und wäre das auch eine Möglichkeit für einen Wissenschaftler, auszulagern, zu sagen, ich bin als Person, ich habe so viele Ideen, ich stecke in einer Welt von Ideen, da muss ich, zehn Leben brauche ich, aber das finde ich alles interessant, das heißt ich hole mir ein Team von Leuten zusammen, denen ich vertraue, wo ich weiß, dass die im meinem Sinne arbeiten.
W.B.: Ja, das, was du beschreibst, das klingt jetzt sehr positiv, aber eigentlich lehne ich diese Haltung ziemlich stark ab, das ist diese Form, in meinen Bereichen, die eben darin besteht, dass irgendein Typ dann seinen Namen über irgendwelche Texte schreibt, die er in Wirklichkeit nie selber verfasst hat, und auslagern kann man ja nur, wenn man schon weiß, wie das Ergebnis sein wird.
M.M.: Wie haben das zum Beispiel die Maler in der Renaissance gemacht, die ganze Kirchen ausgemalt haben, die haben hunderte Leute, die in ihrem Sinne gemalt haben, …
W.B.: Ja, aber das ist eigentlich nicht meine Haltung, für mich ist der Prozess selber wichtig, und ich könnte nichts als eigenes Ergebnis betrachten, wenn ich nicht beim Prozess selber dabei gewesen wäre, ich könnte in der Form, die mich interessiert, ja nicht sekundäre Erfahrungen verarbeiten, [M.M.: es zählt praktisch die Erfahrung.], ich muss es selber sehen, was mich interessiert, ich muss selber mit den Leuten sprechen, die mich interessieren, ich muss in dem Problemkontext drinnen sein, der für mich wichtig ist, und da kann ich nicht irgendjemanden hinschicken, insofern könnte ich die Methode des Renaissancekünstlers nicht anwenden, selbst wenn ich das Geld dazu hätte, oder die Macht, so viele Leute anzustellen. Was mir gefällt ist, wenn ich jemanden, der eben zum Beispiel bei mir eine Dissertation schreibt, dazu anrege, etwas zu machen, und mit der Person zu diskutieren, aber was die Person dann eben macht, das ist ihr Produkt, das ist nicht mehr mein Produkt.
M.M.: Da sind wir natürlich sofort beim Autorschafts-Thema auch. Wir haben immer noch die erste Frage [alle lachen], soll ich die zweite? Gibt es so etwas wie Angst bei der Arbeit?
W.B.: Mittlerweile nicht mehr, ich habe inzwischen so viel gesehen, und mit so vielen Leuten zu tun gehabt, dass ich weiß, dass eigentlich überall mit Wasser gekocht wird, es gibt vielleicht Autoritäten, Leute, die ich ganz toll finde, und mit ich denen gerne etwas tun würde, und da wäre die Angst da, dass man dem nicht genügen und dass man dem nicht entsprechen kann, diese Angst hätte ich schon noch, aber so im gängigen Wissenschaftsbetrieb habe ich keine Angst, ich habe viel mit Dünnbrettbohrern zu tun.
M.M.: Was heißt das Dünnbrettbohrer, Phrasendrescher?
W.B.: Phrasendrescher, Leute die eben zum Beispiel so etwas machen, wie du es gesagt hast, weil die Zählform heute, die für den Erfolg zählt, ist ja die Anzahl von Veröffentlichungen, und natürlich bist du ganz blöd, wenn du zum Beispiel ein Buch schreibst, weil in unserem Zählsystem ist ein Buch eine Veröffentlichung, auch wenn es in einem guten Verlag ist, wenn du aus dem Buch zehn Journal-Artikel machst, dann hast du zehn Veröffentlichungen gemacht …
M.M.: Das finde ich interessant, weil das ist eigentlich etwas völlig Neutrales, für meine Art, meinen Sprachansatz neutral, weil dieses Phänomen der auslagernden Kooperation, das kannst du negativ und positiv betrachten, oder betreiben auch, ich sehe das eher als etwas Positives, weil ich gewohnt bin, zu kooperieren, und es auch einen Prozess finde, als einen Prozess empfinden kann, jemandem etwas zu geben, und dann zu sehen, was er daraus macht, das setzt halt voraus, dass man loslassen kann, und dann letztendlich wenn es zu einem Produkt oder zu einem Erwerb oder zu einem Ergebnis kommt, eben dann in den Credits zu schreiben, das ist jetzt, was weiß ich, um das wirklich demokratisch zu machen, sagen, ok das ist jetzt sechzig Prozent du und vierzig Prozent ich, und dann ist es halt so.
W.B.: Ja, aber das ist ja so eine Form von Auslagerung, die du beschreibst, die würde ich ja nicht als so eine Form von Auslagerung bezeichnen, ich habe einmal mit vielen Leuten gemeinsam ein Buch geschrieben, zu acht, das war so ein Suhrkamp Buch, das hieß Technologische Zivilisation und Transklassische Logik, das war über diesen komplizierten Logiker Gotthard Günther, das haben wir wirklich zu acht geschrieben, und nachdem wir nicht alle acht Namen raufschreiben haben können, haben wir uns halt einen Kunstnamen gegeben, das hieß dann „Kurt Klagenfurt“, und die Namen sind irgendwo vorgekommen, und diese Form von Produktivität, die hat mir gut gefallen, aber das setzt unglaublich viel Vertrauen voraus [M.M.: Absolut], und das setzt noch eine andere Eigenschaft voraus, die die Leute in meinem Wissenschaftsbereich überhaupt nicht haben, nämlich auf die eigenen Sätze verzichten zu können, zum Beispiel Kritik anzunehmen, oder etwas umschreiben zu lassen, wir haben das damals, das ist ja jetzt schon fünfzehn Jahre her, ohne Computer gemacht, auf einem großen Tisch, in einem Institut in Berlin, da waren wir in Klausur, und wir haben an dem Tisch wie in einer Werkstatt die Manuskripte immer weitergeschoben, und jeder hat wieder umgeschrieben, etwas dazugeschrieben, und es war ausgemacht, dass bis auf wirklich grobe Einwände, das, was jemand schreibt, gilt, und wir haben im Endeffekt, glaube ich, ein gutes Buch zustande gebracht, das war eine Form von Auslagerung, aber es ist eine Form von Auslagerung, nicht dass man das an Sklaven oder Untergebene auslagert, sondern dass wir das wirklich als gemeinsamen Prozess gemacht haben, und das war toll, das kann ich mir bei euch auch vorstellen, in eurer Form von künstlerischer Produktivität, dass das so funktioniert.
M.M.: das ist letztendlich auch das Rockbandprinzip, genau so arbeiten Rockmusiker, in den Proberaum gehen, dann wird so lange gemischt, bis da einfach der Song rauskommt, und dann steht eben zum Schluss auf dem Album nicht der Name des Komponisten, sondern der Band.
W.B.: Das ist eine sehr schöne Form von Bastelei, das ist für mich beglückend, wenn das gelingt, aber es ist extrem schwierig, du musst die richtigen Leute finden, und das hat weniger mit Vertrauen als mit so einer Eigenschaft zu tun, es gibt einfach Leute, die haben die Eigenschaft, dass sie nicht eifersüchtig auf ihre Sätze sind, dass sie nicht um jeden Satz kämpfen, ich kenne ja auch Leute, die kämpfen um jedes Wort, mit denen könnte man das nie machen, du könntest nie so einen Text produzieren.
M.M.: Brauchst du ein gewisses Maß an Großzügigkeit, Empathie?
W.B.: Empathie, Sympathie, Großzügigkeit, und dass man sich akzeptiert, dass man auch, was du schon genannt hast, das Wort, dass man das Vertrauen zueinander hat, das zu tun, und dann muss man halt das Vertrauen einfach geben, und darf sich nicht davor fürchten, dass das Ergebnis dann eventuell dem entspricht oder nicht.
J.J.: Und dieses Prinzip ist aber eine Ausnahme in der wissenschaftlichen Arbeit?
W.B.: Ich würde sagen, es wird immer mehr zur Ausnahme, weil eben die Wissenschaft immer mehr konkurrenzmäßig organisiert ist de facto, früher war es ja eher eine Eigenschaft von einzelnen Menschen, heute ist es aber eben ein strukturelles Problem, weil du ja hinausgeworfen wirst, wenn du nicht deine Vorgaben eben erfüllst, bei uns sind das so quasi Vereinbarungen, die geschlossen werden zwischen Institutsleitung und den jüngeren MitarbeiterInnen oder dem Rektorat, und aus dem Prozess bin ich völlig draußen, ich bin ein Fossil , ich bin über fünfzig, ich muss keine Karriere mehr machen und das macht mich relativ entspannt, in dem Kontext, ich kann einfach ausprobieren.
J.J.: Und denkst du, dass diese Angstfreiheit Einfluss hat auf deine Produktivität jetzt?
W.B.: Das glaube ich schon ja [J.J.: Dass du früher gehemmter vielleicht warst?], früher hatte ich das Problem, beim Schreiben nicht gut weiterzukommen, aber ich gehöre zu den Leuten, die durch den Computer eine gewisse Befreiung erfahren haben, ich hatte, ich habe so angefangen, dass mir wirklich jedes Wort wichtig war, jeder Satz, und dann habe ich mit Bleistift geschrieben um das ausradieren zu können, dann habe ich jeden Absatz auf eine Seite geschrieben, und das später zusammengeklebt, dann habe ich so oft radiert, dass es durchradiert war, dann musste ich unten wieder eine Seite draufkleben, da habe ich heute noch irgendwo in quasi Archivräumen habe ich noch so hohe , die dann im Endeffekt einen fünf- oder sechsseitigen Text ergeben haben, weil ich so oft geklebt habe, und umgeklebt und wieder auseinandergeschnitten, und das ist natürlich ein Segen, dass ich das jetzt nicht mehr machen muss.
J.J.: Wenn man das einmal visualisieren könnte bei Word, diese Überlagerung, die man täglich ganz selbstverständlich immer macht, bei den Texten, das ist ja interessant.
W.B.: Ja, das hat ja auch mit diesem Dokumentieren zu tun, was heute der Josef erzählt hat von seinen Notizbüchern, das könntest ja heute, heute könntest du so einen literarischen Produktionsprozess, wenn der Mensch wirklich am Computer arbeitet, überhaupt nicht mehr nachvollziehen, und was weiß ich als Auseinandersetzung zum Beispiel mit dem Kafka oder so, hat auch sehr stark damit zu tun, dass man Manuskripte findet, die durchgestrichen sind, die zehn Mal überarbeitet sind, dort noch etwas dazugeschrieben, und dann kann man ja das nachvollziehen, das könntest du heute nicht mehr, das ist praktisch weg.
M.M.: Genau, und dort ist es dann oft auch so, dass genau diese Peripherie, die textliche Peripherie, im Nachhinein, mehr Information über den Text oder auch die Person generiert, als eigentlich der Text selbst [W.B.: Das ist richtig.], gerade Manuskripte, im Musikalischen die sogenannte Vorkomposition, Musikwissenschaftler, die dann einfach in Skizzen von Beethoven recherchieren, und eben merken, aha im Takt so und so viel hat er hier , da ist es kein fis, sondern ein g, und da steht irgendetwas drunter, oder ganz banal, dass da einfach etwas drübergekippt ist, deswegen ist es später falsch kopiert worden, praktisch dass das Medium, das Medium, und nicht der Inhalt wichtig ist, in der Medientheorie ist das ja Gang und Gebe, Marshall McLuhan, der gesagt hat, the media is the message, es geht nicht um den Inhalt, es geht um das Medium, in dem Moment, wenn du am Rechner arbeitest, hast du plötzlich auch einen ganz anderen output, als mit Bleistift und Radiergummi arbeitest.
W.B.: Ja, es ist die Frage, wie sich dann die Texte ändern [M.M.: Das ist wirklich die Frage.], das wäre interessant zu verfolgen.
M.M.: Da gibt es einige Untersuchungen [J.J.: Weil man nicht mehr so sorgfältig sein muss.], medientheoretisch Untersuchungen, durch das copy paste hat sich eine völlig andere Arbeitshaltung entwickelt.
W.B.: Darf ich nur eine ganz eine kurze Gegenfrage stellen, dokumentiert ihr euren Prozess und seine Irrwege?
M.M.: Klar.
J.J.: Konkret ist es bei mir das Foto- und Bildmaterial, das ich sammle, dass ich in einem Ordner einfach, ich hänge ja immer Bilder an meine Wand, und das was dann aussortiert wird oder mich nicht mehr inspiriert oder anregt, das kommt in den Ordner, das heißt mittlerweile habe ich jetzt schon so einen Ordner mit gesammelten Bildern, einfach ja von den Irrwegen, Umwegen, aber anderen Erkenntniswegen auch, und dann, was ich auch mache, ist halt, bei jeder Recherchephase immer genau aufschreiben, was wir gemacht haben, und auch als Dokumente speichern, jeden Tag, sogar jede Begegnung, das ist mir schon wichtig.
W.B.: in meinem Bereich ist das so, dass das Resultat zählt im Grunde, und der Prozess, der kommt zum Verschwinden, du würdest dich vielleicht sogar selber verraten, wenn du zeigst, dass du irgendwelche Unsicherheiten gehabt hast im Zuge des Entstehens des Textes.
J.J.: Aber das ist hier natürlich auch etwas anderes jetzt, muss ich gestehen, weil wenn wir jetzt so konkret proben, irgendwo in einem Gebäude unser Projekt machen, dann weiß ich, dass ich alles was wichtig ist, nicht vergesse, und deswegen schreibe ich nichts auf, und das, was schlecht ist, vergesse ich, und so sortiert es sich automatisch aus, und deswegen dokumentiere ich das nicht.
M.M.: das ist ein wirklich subjektiver, sehr mächtiger Filter, den man dadurch zerstört, indem man alles dokumentiert, das ist für mich in meiner Arbeit in bestimmten Situationen ganz entscheidend, das kommt auf das Projekt drauf an, was für das eine Projekt dienlich ist, ist für das andere ?19.20, deswegen ist es wichtig, dass man immer für das richtige Projekt das richtige Dokumentationsformat auch auswählt, aber es kommt genau in so konkreten Situationen vor, dass man eben genau nicht dokumentiert, um dadurch die Möglichkeit zu haben, sich an das zu erinnern, oder das solange mit sich rumzutragen, was am Wichtigsten ist, damit es nicht überlagert wird von Nebensächlichkeiten, weil oft man sich einfach in diesen ganzen Dokumenten und Skizzen und Vorkompositionen dann irgendwann verliert, und überhaupt nicht mehr auswählen kann, und dann ist eigentlich mein Körper, oder mein Bewusstsein, meine momentane Erkenntnis, dann ist der Filter für die letztendliche Manifestation dessen, was ich mich entscheide, als Werk auftreten zu lassen, aber ansonsten habe ich ganz viele …
J.J.: [alle lachen] Stop, der Wissenschaftler hat uns selbst referierende Künste gelehrt, ok wie gehst du damit um, wenn du nicht weiterkommst?
W.B.: Wenn ich jetzt an etwas konkret nicht weiterkomme, zum Beispiel bei einem Text, habe ich das System, dass ich vieles gleichzeitig mache, und wenn ich mit einem bestimmten Ding nicht weiterkomme, dann mache ich das andere weiter.
J.J.: Und währenddessen?
W.B.: ich habe so die Feststellung gemacht, die Voraussetzung dafür ist ein zeitliches Kontinuum, deswegen bin ich auch so gerne in Rom, da habe ich eben ein zeitliches Kontinuum über mehrere Wochen, und ich habe oft festgestellt, wenn ich, was weiß ich, am Abend mit irgendwas nicht weiterkomme, was anderes weitermachen, dass mir am Morgen das ganz anders geht, dass ich dann weiterkomme.
J.J.: Aber das heißt, du tust immer etwas [W.B.: Ich tu etwas weiter, ja.], es ist wichtig, dass du eine andere Sache machst, um für die erstere Sache weiterzukommen.
W.B.: Ja, ich habe so eine Bastelmethode, ich schreibe eben, wenn ich Texte schreibe, nicht vom Anfang bis zum Ende durch, sondern ich schreibe am Anfang etwas, in der Mitte etwas, am Ende etwas, und manchmal schreibe ich zwei, drei Sachen gleichzeitig, und wenn ich an einer Stelle nicht weiterkomme, quasi so wie ein gelangweilter Handwerker oder so, so das lasse ich jetzt, es wird schon morgen wieder weitergehen, gehe ich an eine andere Stelle, und versuche dort weiterzukommen, und wenn es dann nicht geht, gehe ich wieder an eine andere Stelle, und wenn es dann nicht geht, dann gehe ich halt ein Bier trinken, aber ich glaube dass das schon, dieses sich nicht auf einen Text zu versteifen, und diesen Begriff, das ist ja ein banaler Begriff, dieses Bastelns im Hintergrund zu haben, das hilft mir beim Weiterkommen, dass ich mich selbst als Bastler verstehe, der so rumschraubt, und da wieder etwas adjustiert und so, und das macht ja auch Spaß, Basteln, das ist nicht so verkrampft.
J.J.: Aber das heißt du bleibst immer bei dir, du beziehst jetzt nicht eine weitere Person ein, der du das mal schickst zum Gegenlesen, oder dass du in einen Dialog kommst und Austausch, oder du bleibst immer bei dir und deinem Text alleine.
W.B.: Wenn ihr mich so fragt, kommt mir zu Bewusstsein, wenn ich alleine schreibe, dann bleibe ich schon bei mir, ich habe eher eine Scheu, wenn dieser Produktionszusammenhang, den wir vorher besprochen haben, wenn das ein Buch ist, das man von der Ausgangssituation her schon zu neunt schreibt, dann ist das ganz eine andere Situation, aber wenn ich allein bleibe, dann habe ich eigentlich Angst, dass jemand anderes mir etwas kaputt machen könnte, und ich habe eigentlich relativ kritische Freundinnen und Freunde, und wenn dann jemand auf mich reagiert, oft ist das sehr positiv und es bringt mich weiter, aber oft haut mir das den Text zusammen, und dann weiß ich nicht, wie ich weitermachen soll, ich bin eher, wenn ich selber einen Text schreibe, habe ich eher eine einsame Schreibart.
J.J.: Und ab wann trittst du dann nach außen?
W.B.: Ja sobald er fertig ist, mein Text [J.J.: Für dich fertig, richtig fertig.], sobald er für mich fertig ist, sobald ich mir denke, das ist einmal so gut, wie ich es im Augenblick eben machen kann, und dann gebe ich das anderen, und dann ändere ich es dann schon noch einmal.
J.J.: Darf ich gleich die nächste Frage vorlesen, weil ich glaube das passt, wie wichtig ist es, dass mindestens ein anderer Wissenschaftler deine Erkenntnisse teilt?
W.B.: Ja, das ist ein großes Problem, was heißt in dem Kontext teilen? Der härteste Kontext von dem Teilen ist ja, dass man einer bestimmten Schule angehört, und wenn andere das nicht teilen, dass du dann aus dieser Schule eben rausfliegst, das ist ja sehr strukturiert im philosophischen Bereich. Teilen, es gibt ja andere Formen von Teilen, zum Beispiel, dass sich Leute über dich ärgern, dass es Widerspruch gibt, oder dass es Auseinandersetzungen gibt, und diese Form des Teilens, die halte ich eigentlich für sehr positiv, dass man in eine Auseinandersetzung gerät. Was in Österreich wieder ein spezifisches Problem ist, weil die Leute sehr große Scheu haben vor solchen Auseinandersetzungen, du hörst ja nur hinter deinem Rücken, dass dich jemand kritisiert, aber du hörst es quasi ins Gesicht nie.
M.M.: praktisch keine Streitkultur.
W.B.: Das ist ein er Mangel in Österreich. Für deutsche Universitäten ist es vielleicht ganz gut, wenn ein paar so quasi österreichisch sozialisierte Leute dort sind, die nicht so knebelbärtig ernsthaft sind, aber ich habe auch da schon Sachen erlebt! Kurze Anekdote, ich kenne einen Wissenschaftler, der ist ein Genie für solche Doppeldeutigkeiten, wir waren in einer Besprechung mit anderen Leuten, und der hat die über den grünen Klee gelobt, dann fuhren wir weg, und eben mit einem deutschen Kollegen im Auto, und der Bekannte hat gesagt, das war jetzt aber eine Scheiße, und der Deutsche, du hast doch gesagt so viel Positives gesagt, der hat das überhaupt nicht verstanden, dass das so ein Doppelsprech war [J.J.: Und du hast es aber verstanden?], ich habe das sofort verstanden, dass das dem überhaupt nicht gefällt, aber er hat denen ins Gesicht gesagt, das ist ausgezeichnet.
J.J.: Das unterstreicht so, dass ich, ich finde immer diese, weil wir haben ja viel mit Koreanern auch gearbeitet, und da hatten wir ja auch ganz viele so kulturelle Missverständnisse auch, Unterschiede und Missverständnisse, und ich habe immer das Gefühl, hier in Österreich sind die Diskrepanzen genau so groß, obwohl dieses Land uns doch so nahe ist, und das ist genau das, was du beschreibst, dass wir nicht gelernt haben so Zweideutigkeiten, oder so Schlenker zu machen, dass wir immer gelernt haben, straight raus.
W.B.: Ja, aber dadurch ist das so gelähmt, dadurch ist das eigentlich wie so eine Schaumwelt, wo du wirklich keinen Widerstand findest, du merkst ihn dann schon, wenn du siehst, dass die Person, die gegen dich ist, irgendwo Einfluss hat, und dir was verweigert, oder wiederum eh nicht ins Gesicht verweigert, sondern wieder jemanden kennt, der dir was verweigern könnte, und dann geht das so über fünf Ecken und Ebenen, und dann plötzlich merkst du, das funktioniert nicht, und du weißt aber im Grunde nicht warum.
J.J.: Und dann spricht man das nicht direkt an?
W.B.: In seltensten Fällen.
M.M.: Das ist eine ganz andere Schule [J.J.: Ja das ist ein Wahnsinn.], das ist eine ganz andere Kommunikationsschule, ich habe das jetzt in meinen letzten drei Jahren in der Schweiz genau so erlebt, ich glaube Schweizer sind diesbezüglich den Österreichern ähnlicher als Deutsche, weil da es nämlich auch so ist, face to face geht gar nichts, es geht nur über hinten was, und vor allem ist es immer das Gegenteil von dem, was gesagt wird, auch ein Beispiel, eines neuen Departments, was gegründet worden sind, und die haben dann in einer Sitzung mit dem Berner ?, bla bla bla, die Zusage bekommen, dass sie die Gelder bekommen, und dann ist ein Deutscher und ein Schweizer Professor ganz happy rausgegangen, und der Schweizer Professor meinte, Scheiße, und er hat gesagt, wieso, er hat doch gesagt, wir kriegen die Gelder, das bedeutet wir bekommen sie nicht, was [W.B.: Das kennt man ja in Österreich auch.], er sagte, es wäre gut gewesen, wenn sie gesagt hätten, wir denken noch einmal darüber nach, aber wenn sie gesagt haben direkt, ihr kriegt die Gelder, bedeutet das, ihr kriegt sie nicht, und er hat gesagt, das ist der Grund, warum die meisten, das Meiste des deutschen akademischen Personals, was in der Schweiz anfängt zu arbeiten, nach drei Monaten wieder weg ist, weil die nämlich mit diesen Codes, mit diesen Verständigungscodes nicht zurechtkommen.
W.B.: Ja, das sind komplexe Codes, das sind nicht nur verbale Codes, sondern zum Beispiel ist es immer wichtig zu schauen, wie die Leute sitzen, wenn ich irgendwo hinkomme, schaue ich, wer mit wem zusammensitzt, und oft ist das krass, auf der einen Seite sitzen die einen, auf der anderen die anderen, du würdest aber nie wissen, dass die eigentlich, aber die setzen sich so hin, und dann kannst du schon einschätzen, wer wo sitzt.
M.M.: eigentlich ist das doch alles eine subjektive Psychologie, eigentlich musst du ja Psychologe sein, und am besten einer, der noch ein bisschen etwas von einem Medizinmann hat, der solche Antennen hat, und weiß, wie er die Codes, die nicht verbal sind …
J.J.: Aber das ist jetzt nicht wissenschaftsspezifisch, oder, das ist in der Kunst sicher genau so, oder in der Wirtschaft?
M.M.: Ja, bei uns genau das Gleiche.
W.B.: Aber in der Wissenschaft ist das fatal, weil das ja quasi mit dem gegenteiligen Anspruch daher kommt, in der Kunst ist das ja nicht so explizit, dass man das auch auf die Fahnen schreibt.
J.J.: dass die Wissenschaft den Anspruch hat, dialogisch zu sein, Diskussionskultur zu haben?
W.B.: Dialogisch zu sein, und objektiv zu sein, in einem gewissen Sinn, wenn eben zum Beispiel neue Forschungsschwerpunkte oder so begutachtet werden, dass das wirklich Gutachten sind, hinter denen jetzt nicht irgendwelche Vereinbarungen oder Absprachen stehen, und es schaut so aus, als ob keine Absprachen dahinter stehen, in Wirklichkeit stehen viele Absprachen dahinter, und du weißt sie nicht, und die einzige Chance, die du hast, die ist eben, das wäre wieder Hausarbeit, was wir vorher geredet haben, die einzige Chance ist, dass du die Leute kennst, und deshalb ist es in Österreich wichtig, auch wenn du überhaupt kein Anliegen hast, mit den wichtigen Leuten, die bestimmte Informationen haben, zum Beispiel essen zu gehen [alle lachen], ich gehe oft mit Leuten essen [J.J.: Deswegen sind wir in der UNO],
J.J.: Wir haben so viele Fragen vor uns, aber ich würde auch trotzdem noch einmal gerne nachhaken. Ich wollte mal fragen, bei der Wissenschaft ist es doch eigentlich so wichtig, dass man so international ist, und dass man auch im Ausland studiert hat, und irgendwelche verschiedenen besonderen Persönlichkeiten, mit denen in Kontakt stand, und da Seminare besucht hat und so weiter, und das müsste doch eigentlich dann auch einen Einfluss haben auf solche spezifischen Umgangsformen, dass man eigentlich viel internationale Eindrücke gesammelt hat, und dadurch auch eine andere Diskussionskultur entwickelt hat, aber das heißt man kommt dann zurück wieder nach Österreich, man kommt wieder in diese [M.M.: dorfgemeinschaftsmäßige] Dialogform zurück, das heißt es verändert sich nicht, oder kannst du sagen, dass es sich verändert jetzt so?
W.B.: Ich meine dann könnte man natürlich sagen, gut, dann sprechen wir halt alle englisch. Aber es gibt ja eben auch Konkurrenzsysteme dazu, zum Beispiel das Russische. Die russische Wissenschaftslandschaft ist enorm interessant, die kenn ich überhaupt nicht. Um die kennen zu lernen, müsste man sprachlich dazu fähig sein, irgendwelche englischen Aufsätze zu lesen, reicht dafür nicht. Das ist halt ausgekämpft worden, und es gibt jetzt diese Dominanz, die Dominanz ist strukturell, aufgrund der Publikationen, aufgrund der Kongresse, die laufen, aufgrund auch dieses Slogans „Internationalisierung“, aber wenn man die Leute fragt, was ist Internationalisierung, ist es immer englischsprachiger Raum. Aber eben nicht nur englisch, sondern englischsprachiger Raum, und das ist das Problem, das halt ich schon für ein großes Problem.
J.J.: Ich glaub die beiden folgenden Fragen haben wir eigentlich jetzt schon abgearbeitet, dann frag ich dich jetzt: sucht ihr Wissenschaftler nach Realitäten, Wirklichkeiten?
W.B.: Das ist ja wirklich eine sehr weitreichende Frage (J.J. und M.M. lachen)
J.J.: Ich kann noch spezifizieren: stellt ihr Behauptungen auf, um Realitäten zu etablieren?
W.B.: Ja, was sind das jetzt für Realitäten? Ich kann nur von mir ausgehen, dort wo ich jetzt so quasi brotmäßig forschungsmäßig unterwegs bin, das ist ja eher so sozialwissenschaftlich, und die letzten großen Projekte, die ich gehabt hab, sind im Humangenetikbereich gewesen, die Auswirkungen von Veränderungen in der Humangenetik, speziell in der Humanmedizin auf Patientinnen und Patienten. Und jetzt ist einmal die Frage, was ist dort die Realität? Da gibt’s viele verschiedene Ebenen, auf denen sich eben diese Realität konstituiert, da gibt’s eben die Instrumente, die es gibt, da gibt’s eben bestimmte Praktiken, da gibt’s aber dann Menschen, die auch diesen Praktiken unterworfen sind, oder die diese Praktiken anwenden, und das sind alles unterschiedliche Realitätsformen und Stufen, und natürlich über diese Realität trifft man Aussagen mit der Absicht, in dieser Realität oder in diesen unterschiedlichen Realitäten Probleme zu identifizieren und eventuell auch Lösungsvorschläge machen zu können, wie man mit diesen Problemen umgeht. Aber diese Realität ist eben durch und durch, in diesem Beispiel, das ich da jetzt verwende, die ist durch und durch konstruiert, und über diese Realität trifft man Aussagen, ohne Realität, ich halte auch Texte, die ohne Realität auskommen, in dem Sinn wissenschaftliche Texte, für völlig sinnlos. Aber die Realität ist eben nicht die Objektivität und das ist auch nicht die Subjektivität, sondern das sind Strukturen, die man versucht, aufzuklären und besser verstehen zu lernen. Und die Realität, die gibt natürlich auch Widerstand und treibt dich in bestimmte Richtungen.
J.J.: Ja, aber das heißt, dass du den Begriff der Realität an sich schon in Frage stellst?
W.W.: Den Begriff der Realität würde ich nicht nur auf der erkenntnistheoretischen Ebene diskutieren, sondern eben auf der Ebene der Faktoren, die Realität erzeugen. Solange es zum Beispiel eine bestimmte Methode in der Medizin nicht gibt, gibt es quasi auch die dieser Methode entsprechende soziale Realität nicht. Es gibt dann schlicht die Menschen, die von dem betroffen sind. Und all diese Realitäten sind im Grunde entweder erzeugt, oder sie sind hauptsächlich, meines Erachtens, in der Geschichte mehr oder minder zufällig entstanden, und diese zufälligen Faktoren produzieren dann Realität und über diese Realität versucht man Aussagen zu treffen, aber immer in dem Bewusstsein, das das nicht objektiv ist, sondern man hat mit Realität zu tun und nicht mit Objektivität. Es gibt zum Beispiel das Aids-Virus nicht als objektives Faktum, sondern das ist ja erst zur Realität geworden, indem es eben aus Afrika in die Schwulengemeinden in Kalifornien eingewandert ist, und seit es dorthin eingewandert ist, hat es sich auch hundertfach verändert, weil es eben Veränderungen dieses Virus gegeben hat, Mutationen, die praktisch durch den menschlichen Eingriff entstanden sind. Das heißt es ist durch und durch real, weil es Leute tötet, und weil es Auswirkungen hat, aber es ist durch und durch konstruiert gleichzeitig, es gibt keine Objektivität in dem Sinne.
J.J.: Okay, das beinhaltet auch die folgenden Fragen.
M.M.: Wenn du die Möglichkeit hättest, am System Wissenschaft etwas zu ändern, was würdest du ändern.
W.W.: Oh, das ist eine große Frage (lacht). Na, ich würds versuchen, zu öffnen, eben wie wir das auch versuchen, dass wir über solche Querlinien zwischen Wissenschaft und Kunst diskutieren, in diese Richtung würd ichs öffnen, und ich würds in Richtung der Betroffenen öffnen, wobei ich mit Betroffenen nicht so eine romantische Betroffenheitsorientierung meine, sondern einfach dass man die Frage stellt, was für einen Sinn hat eine bestimmte Entwicklung, in welche Richtung kann das führen, gibt’s Entscheidungsmöglichkeiten, um zu sagen, man kann diese Entwicklung unterstützen oder nicht. ich würds in diese beiden Richtungen, ich würd Wissenschaft methodisch öffnen, in Richtung Interdisziplinarität, aber Interdisziplinarität eben auch zwischen unterschiedlichen Formen des Wissens und der Erfahrung, und ich würds eben öffnen in Richtung auf Realität, auf das, was eben de facto in einer Gesellschaft faktisch geschieht und was in diesen Systemen vor sich geht, wenn ich das könnte.
J.J.: Ich würd noch gern eine Frage, die ich eigentlich davor stellen wollte, jetzt noch stellen: Kannst du dich dran erinnern, wann du dich entschieden hast, Wissenschaftler zu werden, und was dich dazu bewogen hat, Wissenschaftler zu werden?
W.B.: Mich haben bestimmte Bücher interessiert, und ich kann mich noch genau erinnern, was das erste Buch war, das ich in diesem Sinne gelesen habe, das war vom Herbert Marcuse Der eindimensionale Mensch, das hat mich dann interessiert (lächelt).
J.J.: Weißt du noch, wann das war?
W.B.: Das war mit sechzehn, glaub ich.
J.J.: Und wie bist du darauf gestoßen?
W.B.: Ja weil ich gedacht hab, dass ich nicht eindimensional bin. Ich wollt mir eine Basis erarbeiten (J.J. und W.B. lachen). Aber mehr oder minder hab ich mich nicht dazu entschlossen, mich hats dann interessiert und mich interessierts auch weiter, und dann hab ich halt, zuerst wollt ich ja überhaupt Jura studieren, ich hab auch teilweise Jura studiert, und dann hat mich plötzlich die Literatur angefangen zu interessieren, dann hab ich eben mit Germanistik angefangen, Soziologie und Pädagogik, und letztlich bin ich bei der Philosophie gelandet. Und ich hab lange Jahre, weil ich immer gedacht hab, mit der Philosophie ist nix, davon kann man nicht leben, hab ich dann das Jurastudium immer weiter inskribiert, weil ich gedacht hab, das schließ ich dann noch ab, und dann werd ich Anwalt, bevor ich verhunger.
J.J.: Aber dann wars auch so, dass du für dein gutes Gewissen das Jurastudium angefangen hast und dass es dich doch immer mehr in Richtung Wissenschaft oder Philosophie getrieben hat aus einer inneren Leidenschaft heraus?
W.B.: (unterbricht) Aus verschiedenen, ja aus einer Leidenschaft an Texten, an Literatur. J.J.: Und hattest du damals schon eine konkrete Vorstellung von dem, was Wissenschaft ist, oder hast du das heute , oder ist das für dich etwas, wo du, so wie dus jetzt beschrieben hast, in den Prozess reingekommen bist und was sich für dich immer verändert, oder …
W.B.: Na, ich hatte nicht wirklich konkrete Vorstellungen von Wissenschaft, ich hab nur verschiedene halt Praktiken gelernt und in den verschiedenen Praktiken für mich selber auch bestimmte Kriterien entwickelt und so wächst man halt in irgendwas rein. Ich glaub, dass die Rolle vermutlich in den Künsten genauso, dass man die Rolle des Zufalls, der zufälligen Wegkreuzungen im Leben, das kann man überhaupt nicht unterschätzen, das ist riesengroß, das hätt auch ganz was anderes werden können. Aber das muss ich einfach sagen, es waren auch andere Zeiten. An der Uni war es einfach so, wenn du etwas studiert hast, im Grunde, wenn du gut warst, war schon klar, dass du eine wissenschaftliche Karriere machen kannst. Und das ist heute überhaupt nicht klar. Ich kenne Dutzende ganz tolle Leute, die nicht wissenschaftliche Karriere machen können, weil es das Geld dafür nicht gibt.
J.J.: Und kannst du da ganz klar zwischen beruflichem und privatem Erfolg oder Misserfolg unterscheiden, oder ist das für dich verbunden?
W.B.: Ja, es gibt schon Überschneidungspunkte, aber ich würde schon darauf Wert legen, dass ich das, was für mich Glück heißt, oder Erfolg heißt, nicht allein aus dem beruflichen Bereich beziehe, das finde ich eher traurig, und da ist ja die Uni ein Biotop, wo man viele Leute trifft, die nur aus dem ihr Glück eben beziehen, dass sie [M.M.: Oder auch Unglück.], oder Unglück, Glück und Unglück.
M.M.: Ja: „ich wollte mich immer mit Sprache beschäftigen, wie du weißt, als ich noch nicht sicher war, ob ich literarisch schreiben werde, habe ich es als außerordentlicher Hörer auch wissenschaftlich versucht, habe aber diese Befriedigung nicht gespürt, die ich später beim Schreiben erlebt habe, gibt es denn diese innere Befriedigung auch als Wissenschaftler“, praktisch diese Befriedigung, die er jetzt beim Schreiben empfindet, beim Literarischen?
W.B.: Ich glaube, dass es das schon gibt, das hängt natürlich davon ab, ob du jetzt sehr in einem Themenbereich tätig bist, der quasi auf diesem Schreiben beruht, im philosophischen Bereich ist das sicher ein es Glücksgefühl, wenn man einen schönen Text produziert hat, in anderen Bereichen ist natürlich ein spezifisches Ergebnis, das du herausgefunden hast, vielleicht ein Glücksgefühl, und das hat natürlich auch sehr damit zu tun, zum Beispiel mit gelingender Kooperation, worüber wir vorhin eben gesprochen haben, das denke ich mir, das ist auch etwas, was, denke ich mir, für eher reifere Leute an Universitäten ein Erfolgsfaktor sein sollte, die Frage ist halt, wie das die Leute lernen können, ich habe das Gefühl, dass das nur die wenigsten lernen können, und da gibt es keine wirkliche Didaktik dazu, für das Kooperieren, das sind eben Traditionen, die das ermöglichen, eben Kontexte, dass es Institute gibt, wo das möglich ist, und Institute, wo das überhaupt nicht möglich ist.
M.M.: Könnte es sein, dass diese Konjunktur, die wir da jetzt gerade erleben, das artistic research, dass das vielleicht so eine Art von Schule der Kooperation sein könnte auch, eben in diesem Bereich, in diesem Forschungsbereich, dass man sich praktisch wie so Impfungen, du holst dir einen Fremdkörper rein, und lässt dich da praktisch in Dosen eine Weile lang befruchten, und dadurch bekommst du eine bestimmte neue Reife an Kooperationsfähigkeit?
W.B.: Das könnte geschehen, aber die Frage ist, ob das auch wirklich geschieht, weil ich glaube der Kontext, aus dem heraus das jetzt geschieht, speziell in Österreich, ist der, dass aus den Kunsthochschulen Universitäten geworden sind, das heißt, dass du an der Kunstuniversität im Prinzip ein Doktorat machen kannst, und das jetzt, daher werden auch solche Programme aufgesetzt, die Kunsthochschulen sich quasi wissenschaftlich neu aufstellen sollen, und ob das ein positiver Prozess ist oder nicht, da bin ich sehr skeptisch, es könnte natürlich in dem Sinn passieren, wie du sagst, dass es sowas wie Befruchtungsformen gibt oder neue Kooperationsformen, aber es könnte genauso in die andere Richtung gehen, ich habe eher den Eindruck, von den klassischen Universitäten her, wird diese Kooperation mit den Kunstuniversitäten eher auf dieser Ebene der Vermittlung gesehen, dass man sagt, da könnte man, nachdem ja ein Großteil, die Leute sind immer mehr darauf angewiesen, dass sie extern finanziert werden, sie müssen öffentlich gut auftreten, es muss einfach hip sein, und wenn du bei irgendwas noch ein paar Künstler dabei hast, dann stehst du besser da, das wäre eine solche Gefahr, und dass dann de facto nicht Kooperationen entstehen, sondern [J.J.: Oberfläche. M.M.: Flachheit, eine förmliche oder inhaltliche Flachheit] , Flachheit, ja, der Künstler oder die Künstlerin, das sind dann die besseren Didaktiker, die das besser rüberbringen, oder moderner rüberbringen, oder halt [M.M.: schillernder], schillernder rüberbringen, und die andere Frage wäre eben die, ob dann wissenschaftliche, klassische wissenschaftliche Kriterien den Kunstunis dienlich sind.
J.J.: Aber vielleicht muss ja auch das Bild des künstlerischen Produktionsprozesses überholt werden?
M.M.: Es geht von beiden Seiten, glaube ich.
W.B.: Möglicherweise ja. Das könnte auch sein, es kann gelingen, es kann aber auch nicht gelingen, und das Problem ist, wenn das eben zu Zeiten der Konkurrenz um knappe Mittel geschieht, dann gewinnen die Stärkeren.
J.J.: Ja genau.
W.B.: Und die Stärkeren sind eindeutig nicht die Leute, die sich mit Kunst auseinandersetzen, auf welcher Ebene auch immer, sondern die Stärkeren sind die etablierten Naturwissenschaften.
M.M.: Genau, die halt auch an der Produktivität für die Wirtschaft angekoppelt sind.
W.B.: Genau, oder das zumindest vermitteln, dass sie das können, dass sie das tun, und eventuell mit dem berühmten science goes public, die Künste dafür missbrauchen, öffentlich besser dazustehen.
J.J.: Ok, Herr Dörfler hat gestern das silberne Ehrenzeichen vom Land Kärnten erhalten und hat es Kärnten geschenkt, wo würdest du das Ehrenzeichen hinstellen?
W.B.: Ich würde das gar nicht annehmen [alle lachen], ich habe allerdings, rein mit diesem Ehrenzeichen ist ja auch Geld verbunden, und da hat es eine sehr schöne Aktion gegeben von einem Kärntner Konzeptkünstler, und das ist der Cornelius Kolig, ich weiß nicht ob ihr den kennt, das ist ein großartiger Typ, und der hat so eine Kunsthand entwickelt, so einen Greifarm, womit er dann praktisch ohne in Berührung mit der Politik zu kommen, diesen Preis entgegengenommen, und hat dann öffentlich mit dieser Hand, die ziemlich komplex gebaut war, hat er dann diesen Preis entgegengenommen, und eingesteckt.
J.J.: Aber sich selber, er hat es nicht verteilt dann das Geld irgendwo anders.
W.B.: Nein, der ist ja ein armer Mensch, der hat dann davon gelebt, aber er konnte das zumindest nicht aus der Hand der Politik entgegennehmen, sondern hat das als Kunstaktion gestaltet, das habe ich großartig gefunden.
M.M.: Heiner Müller hat einmal schön in einem Text gesagt, Künstler müssen es tunlichst vermeiden, mit Beamten in direkten Kontakt zu kommen, weil sie bei jedem Kontakt mit Beamten ein Stück ihrer Naivität verlieren, und damit auch ihre Möglichkeit, Träume zu verwirklichen [alle lachen].
J.J.: Ja, Kafka zum Beispiel hat das aber ziemlich produktiv umgesetzt, den Kontakt mit den Beamten.
M.M.: Es ist immer so ein zweischneidiges Schwert, sind das Chancen, sind das Herausforderungen, sind das Gefahren, auch so diese Entwicklung, die jetzt da stattfindet, und in die ich da involviert werde, das finde ich auch hochspannend, ich habe keine Angst mich zu verlieren, weil ich ein Gefühl zu mir selbst habe und denke, ich kann da aber auch da, eher auch eine Chance, und einfach hochspannend zu sehen [W.B.: Ja.], wie sich Sachen verändern, wenn ich jetzt einmal die Chance habe, mit Beamten zusammenzukommen, mit denen ich sonst nie zusammenkomme.
M.M.: Welchen Fetischismus habt ihr, oder welche Fetischismen hast du?
W.B.: Kannst du mir das konkretisieren?
M.M.: Zum Beispiel wenn Ronaldo, der Fußballspieler, sein linker Fußballschuh ist immer mit goldener Farbe angestrichen, der geht ohne das nicht auf den Platz, das ist Fetischismus.
W.B.: ich habe zum Beispiel, wenn ich das mir leisten kann, alte Bücher, und ich habe zum Teil die auch geklaut als Student, muss ich zugeben [J.J. lacht],
J.J.: Lieber Willi, improvisierst du als Wissenschaftler, und fließt deine Intuition oder deine individuelle Persönlichkeit in deine Arbeit ein?
W.B.: meine Persönlichkeit soll einfließen, damit mir das überhaupt Spaß macht, und das Improvisieren würde ich sofort mit dem vorhin erläuterten Begriff verwendeten Begriff des Bastelns in Zusammenhang bringen, natürlich, das ist ständiges Improvisieren, und letztlich wo dann wie etwas ausgedrückt ist, ist quasi ein Resultat dieses Improvisierens, denke ich mir, und auch keiner jetzt, sagen wir so, psychologisch tiefen Intuition oder so esoterischen Intuition, sondern schlicht, dass du für manche Dinge halt so ein gewisses Bauchgefühl hast, und das würde ich auch als Improvisation bezeichnen, dass man so lange rumprobiert, bis es dann passt, dass es befriedigend ist.
J.J.: Bis man dann intuitiv spürt, dass es richtig ist.
W.B.: Genau, spürt man, es ist richtig, und man kann, vieles kann man ja gar nicht verbalisieren, aber ich bin eben dagegen, dass man sagt, das verrätselt man, ich will das überhaupt nicht verrätseln, aber man kann es ja nicht verbalisieren, oder es lässt sich nicht objektivieren.
M.M.: Wenn du sagst, es ist dieses Bauchfeeling, was dir sagt, das passt, oder das geht, das wird gehen, und das bringt dich dann dazu, in Anführungszeichen das Richtige zu tun, den Prozess zu fördern, dass der in diese Richtung geht, die dir vom Gefühl her sagt, da komme ich zu einem Ergebnis, dieser Prozess, das ist jetzt auch eine Frage, diesen Zusammenhang bilde ich jetzt einmal gerade raus beim Sprechen, könntest du die die Kunst des Handelns nennen, ist das eine Kunst zu handeln, weil man kann ja auch scheitern, und wenn jetzt einer, der gut ist, in diesem Prozess, in dieser Prozessualität, dann könnte man sagen, das ist ein Handlungskünstler.
W.B.: Man könnte das Wort schon verwenden, und das ist, denke ich mir, doch ein sehr reichhaltiges Thema, weiß ich nicht, ob ihr dieses Buch kennt, von Michel de Certeau, das heißt Kunst des Handelns, das ist ein französischer Philosoph und Kunsttheoretiker, und da werden, und das wird in allen möglichen Kontexten dargestellt, in der sich diese Kunst bewährt oder erst herausbildet, da geht es ums Schreiben, da geht es ums Gehen zum Beispiel, im städtischen Raum.
M.M.: Kennst du, Luigi Nono kennst du oder, weißt du seine Erfahrung, er hat ja diese große Kompositionskrise, Arbeitskrise gehabt, und dann hat er sich entschlossen, jetzt einmal gar nicht schreiben, Sabbatical, und hat das schon vor Jahrzehnten gemacht, was jetzt schon Mode ist, schon lange, in Nordspanien, den Jakobsweg abgewandert, und die Lösung, oder die Auflösung seiner Krise, hat er erfahren durch einen an eine Klostermauer mit weißer Farbe gemalten Satz, „no hay caminos, hay que caminar“, es gibt nicht den Weg, es gibt nur das Gehen, das sich Bewegen, es gibt nicht einmal mehr ein Ziel, es gibt schon gar nicht mehr den Weg, normalerweise sagt man ja, das Ziel ist der Weg ist das Ziel, aber dieser Satz ist ja noch einen Schritt weiter, es gibt nicht einmal mehr den Weg, sondern es gibt nur das Wandern, es ist für mich sehr nahe, halt auch in Zusammenhang mit dieser Kunst des Handelns, es geht nur noch um das Handeln an sich, dass das Handeln an sich schon alles in sich trägt, als Produktionsform zum Beispiel.
W.B.: notiert, das lässt sich auch in einem gewissen Sinn vertiefen, und da gibt es ein sehr schönes Bild bei Certeau, das ist ja wiederum vom Kant, und Kant unterscheidet, um eben Kunst zu beschreiben, in seinem Sinn, zwischen dem Taschenspieler und dem Seiltänzer, und er sagt beim Taschenspieler ist gewissermaßen der Trick schon da, du musst ihn nur können, du musst üben, und das ist jetzt nicht Kunst, und Kunst wäre das, was der Seiltänzer macht, dass der nämlich ständig quasi ausgleichen muss, eigentlich unkalkulierbare Faktoren und Einflüsse, und dieses ständige Ausgleichen im Rahmen von letztlich nicht entscheidbaren Situationen, das ist meines Erachtens Kunst, das kann man wissenschaftlich auch zum Beispiel sehen, wo schon in der Antike so etwas beschrieben wird wie Heilkunst, und die Heilkunst, die unterscheidet sich auch heute noch von der klassischen, quasi empirischen Medizin, die haben ja diese Schemata, wo sie dann Zahlen eintragen, diese Diagnoseschemata, und was man aufgrund einer bestimmten Diagnose eben zu tun hat oder zu lassen hat, was ja aufgrund dieses Systems notwendig ist, weil sonst kriegen sie zum Beispiel rechtliche Probleme, sondern die Heilkunst ist eben eine, die widersprechende Faktoren letztendlich auch intuitiv einschätzt, so wie der Seiltänzer sieht, dass man so einen entsprechenden Mittelweg findet, der vielleicht zur Heilung führen kann. Das können die Wissenschaften von den Künsten lernen. Es gibt nicht das eindeutige Resultat ja oder nein, sondern es gibt ein Abschätzen von unterschiedlichen Faktoren, und diese Faktoren muss man natürlich kennenlernen und erforschen und transparent machen, aber es gibt nie die Lösung, sondern es gibt immer nur das Einschätzen innerhalb dessen, und das ist letztlich diese Kunst des Seiltänzers bei Kant.
M.M.: Genau, und das ist dann letztendlich dann auch eine Kunst, die immer wieder im Moment neu stattfindet, und ähm, diese Entwicklung ist überhaupt nicht in dieser historischen Zeit, sondern das ist immer in der Gegenwart, Miles Davis hat ganz, der hat unglaublich tolle Sachen, ganz komplexe Sachen ganz einfach ausgedrückt, der hat gesagt, there is no wrong note, until you play the next, das drückt genau das aus, diese kausalen Zusammenhänge sind da ganz anders.
J.J.: Ich fand das auch ganz interessant, ich war im Haus der Kulturen der Welt auf einer Diskussion über den arabischen Frühling jetzt, und wie die Künste damit auch umgehen können, und da waren Künstler und Wissenschaftler da zusammen, und haben diskutiert, unter anderem der Kurator, der eben speziell sich zur Aufgabe gemacht hat, er hat auch die Dokumenta 11 kuratiert, die afrikanische Kunst und andere Kunst neben der westlichen Kunst auch mit in dieses Kunstsystem, in das gegenwärtige Kunstsystem, mit reinzuholen, und da war es sehr interessant, dass er meinte, bezüglich des arabischen Frühlings, der jetzt vor einem Jahr seinen Lauf genommen hat, dass die Künste, oder er hat da mit Mona Hatoum zusammen diskutiert, einer Künstlerin, dass die Künste nicht prognostizieren, sondern diagnostizieren, und dass sie auf diese Weise mit solchen Phänomenen in der Gesellschaft umgehen, und dass es das ist, was sie leisten können, und das fand ich auch ziemlich klug auf den Punkt gebracht , dass man gar nicht den Anspruch hat, wir erkennen jetzt die Welt und sagen wie es weitergeht, sondern dass man einfach einmal das, was da ist, versucht darzustellen und greifbar zu machen, fassbar zu machen, zum Beispiel auch Fukushima oder so, da gibt es halt jetzt eine Auseinandersetzung von Künstlern damit, um überhaupt [M.M.: erfahrbar zu machen], ja, Unfassbares fassbar zu machen, greifbar zu machen, um dann weiterzukommen.
W.B.: Sagen wir, es zu konkretisieren, und auf einen Punkt zu bringen, aber nie mit der Illusion, dass man im Endeffekt dann eine einzige [J.J.: Lösung, genau] Lösung hat, oder ein einziges Produkt in dem Sinn, das wirklich das Richtige ist.
J.J.: Genau, und das nimmt einem glaube ich auch die Angst, deswegen kann man auch immer produzieren, weil man ja gar nicht diesen Anspruch haben muss.
M.M.: Ja, und das ist einfach dann auch gegenteilig, weil immer diese Gefahr, gerade in der Kunst, im akademischen Bereich gelehrt wird, dass da genau das Gegenteil passiert, dass die jungen Künstler immer gezwungen werden, so konkret wie möglich zu sein, wenn die Arbeiten zeigen, viele Professoren einfach sagen, ich will jetzt sofort in einem Satz wissen, was du damit erreichen willst, was willst du damit sagen [J.J.: Das ist die Situation, wo ich so ausgeflippt bin], was ist dein Inhalt, und ähm, wenn du erstens das nicht kannst, und zweitens vielleicht auch gar nicht willst, weil deine Strategie nämlich ist, vielleicht einen Zustand zu zeigen, der umschrieben wird, du willst da überhaupt nicht jetzt den Kern zeigen, sondern du willst eigentlich diesen Zustand umschreiben, um den Betrachter dann diesen Zustand durch diese Umschreibung selbst zu erfassen, dann wird es oft kritisiert, dass du unfähig bist, konkret zu sein in deiner Arbeit, und das ist eigentlich schlechte Kunst, weil Kunst ist eigentlich nur, wenn man ganz genau sie in Texten beschreiben kann, in dem Moment ist es dann wieder Wissenschaft, da werden dann wissenschaftliche Formate angesetzt.
W.B.: Das ist ja die Frage, wie eben diese Kooperation …
J.J.: Das ist halt das Problem, wenn Kunstwissenschaftler oder Kuratoren dann die Künstler unterrichten, das ist ein großes Problem.
M.M.: Was haltest du von folgenden Gründungsszenarien, es soll für die Natur gelten, könnte man es aber auch auf die Sphäre der menschlichen Erkenntnisproduktion übertragen? Text jetzt: „Lasst in ein dunkles Zimmer einmal die strahlende Sonne fallen, durch irgendein Loch, du betrachtest dann näher den Lichtstrahl, du wirst dann in dem Strahl unzählige, winzige Stäubchen wimmeln sehen, die im Leeren sich mannigfach kreuzend vermischen, die wie im ewigen Kriege sich Schlachten und Kämpfe zu liefern, und keinen Moment sich verschnaufen. Immer erregt sie der Drang zur Trennung wie zur Verbindung. Daraus kannst du erschließen, wie jene Erscheinung sich abspielt, wenn sich der Urstoff stets im unendlichen Leeren beweget, insofern auch das Kleine von größeren Dingen ein Abbild geben und führen uns kann zu den Spuren der wahren Erkenntnis“. Lukrez: Von der Natur.
W.B.: Mhm, das ist ja ein sehr großer Text, ich würde, wenn man da assoziativ vorgeht, einfach sagen, wofür so ein Text spricht ist, dass man das Starre in Prozesse überführt, und Prozesse in ihrer Komplexität und gleichzeitig auch Einmaligkeit versucht, sichtbar zu machen, und da sehe ich dann schon starke Verbindungen zwischen elaborierter Kunst und elaborierter Wissenschaft, wenn eben Substantive, wie zum Beispiel das Subjekt, überführt werden in Prozesse, und wenn man sieht, dass das immer nur im Kontext mit vielen anderen Faktoren, Menschen, Einflüssen und so weiter passiert, dann würde man diesen Staub sehen, und auf das ein Licht zuwerfen, das ist sowohl die, finde ich, die erkenntnistheorische Aufgabe von bestimmten Wissenschaften, ist aber auch die erkenntnistheoretische Aufgabe von Kunst, aber kein Licht im Sinne jetzt des Neonlichts, oder der Aufklärung, wo das quasi in Transparenz sich auflöst, sondern wo man nur sieht, dass das ständig quasi in einer Veränderung begriffen ist, und daher auch nicht auf das endgültige Ergebnis gebracht werden kann, und daher eben auch keine Formeln tauglich sind, um dieses endgültige Ergebnis für immer festzuschreiben, das würde ich damit assoziieren, auch in einer gewissen Nähe zu dem, was wir eben versuchen zu betreiben gemeinsam.
M.M.: Da gibt es noch einen Cartoon zum Abschluss, bisschen klein aber.
W.B.: Was steht da, the new scientists, ja das ist ja schön, das wären die verschiedensten Metaebenen, die es da gibt.
M.M.: Genau, ja, so verstehe ich es auf jeden Fall, das ist der Laborant, der wird beobachtet und analysiert beim Arbeiten, und der Beobachter wird wieder von einem Beobachter analysiert, und so die richtige Kette, dass letztendlich zum Schluss der Beobachter des Beobachters des Beobachters des Beobachters des Prozessuierenden steht, ist das so richtig erkannt?
W.B.: Das ist richtig erkannt, was ich bemerkenswert finde, ist eben sein Gesichtsausdruck.
J.J.: Die Augen, die immer nach hinten schielen, das finde ich auch.
W.B.: Ja genau, und er ist nicht besonders fröhlich, und es könnte auch sein, dass er sich wehrt, habt ihr diesen Film einmal gesehen Kitchen stories [J.J.: Mhm, wo der eine auf so einem Hochstand in der Küche sitzt.], jemand, der die ideale Küche in Finnland eben erforschen will, da beginnt dieser Mensch dort, der beginnt zurückzubeobachten, der bohrt ja dann Löcher in die Wand, und beobachtet dann seinerseits den Wissenschaftler, und dadurch wird das skurril.
M.M.: Das ist vom Umschlag, vom Innenumschlag von einem Buch von Kathrin Cetina-Knorr, die Wissensproduktion, habe ich, im Paul Feyerabend-Text war das empfohlen, es ist sehr kritisch auch, was ich vorher gesagt habe, diese objectivity erected in the laboratory, wo sie einmal so wirklich zeigt, was da überhaupt vonstattengeht, und wie Naturwissenschaftler in anwendungsnahen Gebieten ihre Ergebnisse frisieren, nur damit sie halt das Ergebnis bekommen, was sie vorhergesagt haben, ist das wirklich so, dass da so getrickst wird?
W.B.: Naja das Problem ist, dass dadurch, dass das alles sehr spezialisiert ist, dieser Anspruch ja meistens nicht aufrechterhalten wird, dass das auch wiederholbar wird, oder de facto dann wiederholt wird, und dann wird natürlich viel getrickst, ich meine das geht ja, man muss ja sehen, dass in den Naturwissenschaften bei diesen großen Forschungsprogrammen, die wir jetzt hatten, oder noch immer haben, da geht es um viel Knete, und wenn du da eine bestimmte These aufgestellt hast, oder in eine bestimmte Richtung gehst, und dann stellt sich heraus, das funktioniert nicht, dann bist du aber wirklich im Arsch, und daher wird natürlich auch viel manipuliert, und nachdem das so teuer wäre, das wieder nachzustellen, das lässt sich ja nur bei einfachen Dingen ständig wieder wiederholen, dass man sagt, jetzt kann man es überprüfen, es ist ja im humangenetischen Bereich auch viel getrickst worden, da hat es ja diesen Skandal gegeben in Korea [M.M.: Genau, ja.], da ist viel getrickst worden, und bei den nächsten modischen Themen wird vermutlich auch viel getrickst werden, wo es ja um noch viel mehr Geld geht, und das ist eben dieses Neurothema, das genetische Thema ist ja jetzt abgearbeitet, das hat nie die Ergebnisse gebracht, die man eben angekündigt hat, aber es hat auch sehr viel Geld umgesetzt, es hat das Ergebnis gebracht, dass die Ergebnisse nicht erreichbar sind, im medizinischen Bereich hat es das Ergebnis gebracht, dass es wenige monokausale genetisch bedingte Krankheiten gibt. Das ist jetzt aus, hat sich quasi selbst widerlegt in einem gewissen Sinn, der genetische Determinismus, und jetzt kommt das interessante, eben die Neurologie, und da glaube ich auch, dass man da auch nicht das Gehirn wird modellieren können, sondern das Geschäft wird immer in den Kollateralgebieten gemacht, ich glaube das große Thema, ich weiß ich nicht, ob ich da jetzt Recht habe, aber ich glaube, das große Thema wird Gehirndoping sein, bei der Neurologie, Medikamente, mit denen du leistungsfähiger wirst, das wird ein Ergebnis dieser Neurowissenschaften sein, und wenn du das hast, stell dir das einmal vor, dann kannst du jeden Tag, wenn du ins Institut gehst, damit du überlebst, das Gehirnviagra in der Apotheke kaufen, und das wird nicht billig sein, und wenn du das nicht nimmst, dann bist du ein Idiot, dann sitzt du dumpf in deinem Büro, und die anderen produzieren wie Teufel [lacht], und du kommst einfach nicht weiter, ich glaube, dass das so sein wird.
M.M.: Es hat auf jeden Fall, auch wenn es humoristisch gemeint ist, alles eine Realität, weil ich, nach der Lektüre dieses Buches, war ich schon fast ein bisschen schockiert, weil es für mich dann so rüberkam, als ob die Naturwissenschaftler da mehr Interesse haben, an der Verifizierung ihrer Hypothesen oder ihrer Visionen, und einfach das Experiment eigentlich dazu nur benutzen, um ihre Thesen zu verifizieren, als wirklich auszuprobieren und zu schauen, was da rauskommt.
W.B.: Ja es kommt ja wohl etwas heraus, aber es wird einfach überschätzt. Gehen wir ein Bier trinken?
M.M.: Ja, gehen wir ein Bier trinken.
J.J.: Dankeschön.