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Artistic research: Die Künste und die Wissenschaften – eine glückliche Begegnung?

Dieser Titel hat ein Fragezeichen, und dieses Fragezeichen ist sein eigentliches Motiv. Es geht nämlich einerseits um den Zweifel daran, ob ein Dialog zwischen den Wissenschaften und den Künsten, wie er aktuell in verschiedenen Diskussionszusammenhängen propagiert wird, eine unproblematische Angelegenheit ist. Und andererseits ist diese Begegnung faszinierend. In der Folge soll dieser Zweifel argumentiert und nach Perspektiven gefragt werden, die über ihn hinausweisen.

Skepsis und meine Faszination nähren sich aus konkreten Erfahrungen: Der Autor hat Forschungsprojekte im Feld der Begegnung zwischen Wissenschaften und Künsten durchgeführt und Erfahrungen von beiden Seiten her gemacht.

Die eine Seite ist: Längere Zeit war er Leiter von Forschungsprojekten im Begleitforschungsprogramm ELSA zum letzten großen naturwissenschaftlichen Schwerpunktprogramm des Wissenschaftsministeriums GENAU, das ist ein Forschungsprogramm zur Humangenetik, insbesondere im medizinischen Bereich. Einerseits sind solche Begleitforschungsprogramme, die die ethischen, rechtlichen und sozialen Konsequenzen der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung reflektieren, ein enormer wissenschaftspolitischer Fortschritt. Andererseits kann es passieren, dass SozialwissenschaftlerInnen und PhilosophInnen dabei in eine ganz eigenartige Rolle geraten, die oft KünstlerInnen zugemutet wird.

Und die andere Seite ist: Der Autor leitet das Projekt Knowledge trough Art im Rahmen des Programms zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK) des österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF). In diesem Projekt geht es darum, unterschiedliche Formen der Erkenntnisgenerierung, -darstellung und –vermittlung in Künsten auf der einen und Wissenschaften auf der anderen Seite in einem wechselseitigen Austauschprozess zu erschließen und ihre jeweilige Übersetzbarkeit experimentell auszuloten. Einerseits bieten Programme wie das PEEK eine ganz einmalige Chance der Reflexion quer über Wissenkulturen hinweg und die Programmverantwortlichen sind sich der wissenschaftspolitischen Konsequenzen dieser Reflexion bewusst. Andererseits ist es eine Erfahrung aus dem genannten Projekt, dass hier nun die Rolle der WissenschaftlerInnen durchaus problematisch wird: Das künstlerische Tun und dessen Interpretation können auseinanderfallen, und die zweite Aufgabe fällt den Wissenschaften zu.

Vor diesem Hintergrund hat der folgende Text fünf kurze Teile: Am Anfang geht es darum, vor dem Hintergrund der angedeuteten Erfahrungen, zwei Problemfelder der Begegnung zwischen den Wissenschaften und den Künsten skizzieren: Erstens das Problem, dass diese Begegnung die Wissenschaften und die Künste letztlich auf die Erfordernisse des neoliberalen Marktes ausrichten könnte: Das ist das Problem der Anpassung. Zweitens das Problem, dass in dieser Begegnung die Wissenschaften, insbesondere die Philosophie eine  neue hierarchische Position gegenüber den Künsten erlangen: Das ist das Problem der Hierarchisierung. Der dritte Teil nimmt einen neuen Anlauf, indem er von dem Perspektivenwechsel ausgeht, den artistic research im Kern intendiert: Methode. Der vierte Teil argumentiert, dass eine gelingende Begegnung zwischen Wissenschaften und Künsten darüber hinaus einen gemeinsamen Horizont, so etwas wie ein ästhetisches Konzept, braucht und stellt dazu kursorische Überlegungen an: Intensivierung und Extensivierung. Der letzte Teil beschreibt die konkreten Bedingungen einer glücklichen Begegnung: Übersetzung und Transformation.

 

Das Problem der Anpassung

Die Künste und die Wissenschaften in neuer Weise einander anzunähern, ist ein aktueller wissenschaftspolitischer Trend: Es gibt Leitlinien der Wissenschaftspolitik, die Annäherung ist an Kunstuniversitäten Thema, es werden einschlägige Forschungsförderungsprogramme aufgelegt.

Solche Bemühungen haben schon seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts historische Vorläufer. Man denke nur an das Bauhaus in Weimar und später in Dessau, das die Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft propagiert hat. Nicht nur werden, wie vom dort tätigen Paul Klee, Schriften veröffentlicht, die Kunst und Theorie anschaulich verknüpfen, zum Beispiel Pädagogisches Skizzenbuch (1997). Sondern es wird vor allem auch versucht, ein neues, institutionell gefasstes Verhältnis zwischen künstlerischen Tätigkeiten und wissenschaftlicher Reflexion zu etablieren.

Während das Programm des Bauhauses gerade damit einigermaßen radikal war, muss heute die Frage gestellt werden, inwiefern es bei ähnlich gelagerten Unternehmen um die Kompensation von  Mängeln geht, die in einer neuen gesellschaftlichen Situation, der Unterwerfung unter neoliberale Bedingungen, auftreten. Die Frage gilt für beide Seiten, für die Künste und die Wissenschaften.

Was die Seite der Künste betrifft, so werden die Kunstuniversitäten und Hochschulen, die oft den klassischen Namen „Akademien“ trugen, mit der Aufgabe ihrer Verwissenschaftlichung konfrontiert. Nicht nur vergeben sie, wie in Österreich, universitäre akademische Titel, sondern die Institutionen selber sollen wissenschaftliche Züge annehmen. Das bringt die Chance mit sich, eine neue Ebene der Reflexion zu etablieren. Aber es darf nicht vergessen werden, dass diese Verwissenschaftlichung unter den Bedingungen einer neuen Evaluations- und Effizienzkultur an den Universitäten geschieht, durch die insbesondere die jüngeren WissenschaftlerInnen in stromlinienförmige Karrieren gezwungen werden, und durch die sich nicht bloß Äußerlichkeiten, sondern auch Inhalte ändern. Werden nun auch die künstlerischen Institutionen den Zumutungen der Journals, Calls und Kommissionen, der outputorientierten und kennzahlenorientierten Steuerung unterworfen?

Was die Seite der Wissenschaften betrifft, so befinden sie sich in eben diesem Anpassungsprozess. Wissenschaftliche Forschung wird zunehmend von so genannten Drittmitteln abhängig. Deren Beschaffung hat wiederum öffentliche Akzeptanz zur Voraussetzung. Und so müssen die Wissenschaften sich um Öffentlichkeitsarbeit kümmern. Große Forschungsprogramme engagierten eigene Agenturen, die den Öffentlichkeitsauftritt gestalten, und wo die Darstellung von sehr speziellen Forschungsergebnissen zu wenig aufregend ist, werden PhilosophInnen oder KünstlerInnen engagiert, um die strittigen ethischen Hintergründe zu erläutern oder das Abstrakte sinnlich erfahrbar zu machen. Das war in dem erwähnten Programm GENAU der Fall.

Auf beiden Seiten also gerät die Begegnung in die Gefahr, in einen Prozess vereinnahmt zu werden, der sowohl die wissenschaftlichen als auch die künstlerischen Institutionen auf neue Erfordernisse des Marktes ausrichtet. In einem solchen Kontext werden die Künste zu Unterhaltungskünsten, und Wissenschaften orientieren sich von vorneherein am Markt der Ökonomie und der Aufmerksamkeit.

 

Das Problem der Hierarchisierung

Nun hat auch das Verhältnis zwischen den Wissenschaften und den Künsten bekanntlich eine lange Geschichte.

In ihrer philosophischen Variante ist dieses Verhältnis von alters her als hierarchisches definiert. Schon Platon will, von der Position des Staatsphilosophen aus, die Tragödie und bestimmte Musikinstrumente überhaupt aus seinem Idealstaat verbannen, weil sie einer ruhigen Beherrschung der Affekte entgegenstehen. Im Dialog Politeia verdirbt die  Dichtkunst die um ihre Tugend bemühten Männer (1958, 605 d). Wenn Aristoteles, der große Ordner des Denkens, die Philosophie, also die Wissenschaft als das Höchste bestimmt, kann es in der Folge nur darum gehen, den Künsten ihren rechten Ort zuzuweisen. Das gilt im Prinzip bis ins zwanzigste Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert, als eine philosophische Ästhetik als neue Unterdisziplin entsteht, wird den Künsten ihr moderner Ort zugewiesen. Der aufkommenden Wissenschaft, ihrer logischen Form und Nützlichkeitsorientierung, scheint die materielle Fülle und Vollkommenheit des Einzelnen aus dem Blick zu geraten. Die Ästhetik von Alexander Gottlieb Baumgarten von 1758 (2007), der als Namensgeber der neuen Unterdisziplin gilt, weist, modern gesprochen, den Künsten die Aufgabe der Kompensation dieses Blickverlusts zu. Wenn Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik von 1804 schreibt, die Künste umgeben „die begrenzte Natur mit der Unendlichkeit der Idee“ (1974, 93), geht es wiederum um die sinnliche Kompensation des Blicks auf das Ganze

Die beiden Motive, die Künste hierarchisch zu verorten und ihnen eine kompensatorische Rolle zuzumuten, lassen sich heute noch aufspüren, sind aber in der Gegenwart obsolet geworden. Wo die Künste aktuell zum Gegenstand kunsttheoretischer Reflexion werden, wächst ihnen eine andere, bedenkenswerte Rolle zu. In verschiedenen Schriften, etwa von Boris Groys (2004), werden die Künste als Zeugen für die jeweils in Rede stehend historische oder aktuelle Situation in Anspruch genommen: Sie veranschaulichen die historischen oder sozialen Prozesse, die beschrieben werden sollen. Ihre Rolle als Zeugenschaft ist eine hierarchische Verortung der Künste.

Wenn die Künste den Wissenschaften ihren Dienst leisten sollen, so lautet ihre Aufgabe letztlich: Illustration und Kommunikation. Ein Anderes, für das sich die Wissenschaften zuständig fühlen, soll durch die Künste illustriert und kommuniziert werden, seien es abstrakte Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung, oder seien es die Ideenwelt, die göttliche Schöpfung, das Absolute, der verlorene Blick, die kritische Distanz oder unmittelbar die Zeugenschaft für den historischen Prozess.

Angesicht der Gefahren der Anpassung und Hierarchisierung stellt artistic research nun tatsächlich einen Perspektivenwechsel dar, mit dem radikale Konsequenzen verbunden sind.

 

Methoden

Dass eine Begegnung zwischen den Künsten und den Wissenschaften in neuer Weise konzipiert werden kann, verdankt sich bekanntlich unter anderem einem Buch von Paul Feyerabend schon von 1984, dessen Titel Wissenschaft als Kunst zu einem Schlagwort geworden ist. Er hat geschrieben:„Weder bilden die Wissenschaften die begriffliche Einheit, die man ihnen oft auferlegt (…), noch ist die Vielheit der Praktiken, aus denen sich das Gebiet der Wissenschaften zusammensetzt, so scharf von anderen Bereichen getrennt, wie es die Idee einer wesentlichen Verschiedenheit der Wissenschaften und der Künste nahelegen würde. (…) …künstlerische Verfahren kommen überall in den Wissenschaften vor und besonders dort, wo neue und überraschende Entdeckungen gemacht werden“ (1984, 8).

Der Blick Feyerabends auf die unterschiedlichen Kulturen der Wissenschaften und der Künste  richtet sich auf die Verfahren. Sich in seinem Sinne den Verfahren zuzuwenden, heißt, methodische Parallelen konkret in den Blick zu nehmen, um darüber in einen Auseinandersetzungsprozess zu geraten.

Auf der einen Seite kennen die Künste sehr viele Methoden, die als wissenschaftlich gelten. In dem erwähnten Projekt Knowledge trough Art werden diskutiert: Recherchieren von Literatur und Fakten; schauen und Orte erkunden; skizzieren und notieren (die Rolle des Notizbuches als Werkzeug in der literarischen Produktion); experimentieren mit Worten und Tönen, Bildern und Entwürfen, aber auch in gedachten oder wirklich konstruierten Versuchsanordnungen, in denen zum Beispiel ein literarischer Text seine Figuren zwingenden Konsequenzen unterwirft oder ein Ort konstruiert oder in anderer Weise begehbar gemacht wird; das Ausgehen von „Fällen“, wie es zum Beispiel der Literat Josef Winkler an Hand von Jean Genet (1994) und, im Rahmen des Projekts, an Hand des Malers Chaim Soutine vorführt; das Basteln, in dem Fakten und Zeichen zu neuen Ergebnissen zusammengeführt werden; die Offenheit eines Vorgehens, in der das Ergebnis erst allmählich im Zuge seines Verfertigungsprozesses, im Zuge ständiger Umstellung der Entwürfe, Formen und Materialen erscheint. Die österreichische Malerin Maria Lassnig hat einmal gesagt, dass sie zwar zu Beginn des Malprozesses das Bild im Kopf habe und es jetzt eigentlich abmalen könnte, sich aber weigert, genau dies zu tun, und notiert: „Was man unter Kunst versteht, betrifft bei mir die Tätigkeit, ihre Beabsichtigung und das notwendige Scheitern, die zusammen dann etwas Mysteriöses, nicht Verständliches ergeben“.

Umgekehrt gilt: Die Literaturrecherche, das Erkunden von Orten, das Forschungsprotokoll sowohl in den Naturwissenschaften als auch zum Beispiel in ethnologischen Forschungsprozessen, das Basteln, das Experiment und schließlich der Zweifel an der Planbarkeit und die Offenheit des Vorgehens sind unverzichtbare Bestandteile moderner wissenschaftlicher Methoden.

Wenn man sich über diese Parallelen auseinandersetzt, worin könnte nun inhaltlich eine Annäherung bestehen und welchen Wert hätte sie? Zunächst liegt nahe: Die wissenschaftliche Perspektive kann tatsächlich Reflexionsfolien, Darstellungsformen und Methoden für künstlerische Tätigkeiten anbieten. Umgekehrt können künstlerische Darstellungsformen, zum Beispiel die klangliche Darstellung naturwissenschaftlicher Daten (Forschungsfeld „Sonifikation“ an der Hochschule der Künste Bern) neue wissenschaftliche Fragen aufwerfen.

Aber es gibt darüber hinaus eine aktuelle Entwicklung, in der wissenschaftliche Methoden, insbesondere Methoden in inter- und transdisziplinären Ansätzen, zu künstlerischen Methoden in ein neues Verhältnis treten. Das kann kurz und plakativ anhand des Methodenbegriffs dargestellt werden. Das Wort Methode kommt bekanntlich aus dem Griechischen. Es ist aus zwei Worten zusammengesetzt: aus (h)odos und aus meta. (h)odos heißt „Weg“, „Gang“, meta dagegen ist doppeldeutig.

Das Wort heißt einerseits: „nach“, eine Bedeutung die zum Beispiel der Metaphysik des Aristoteles ihren Namen gegeben hat, weil die entsprechenden Texte einfach nach den acht Büchern der Physik (meta ta physika) in den Kanon der Schriften eingeordnet wurden. Heißt meta „nach“, dann bedeutet methodos „Nach – Gang“. Die Folge ist eine doppelte. Erstens: Der Weg ist meistens schon fertig, es kommt nur darauf an, ihn noch einmal zu gehen. Zweitens: Seit der antike Denker Parmenides von einem Weg ((h)odos) berichtet hat, an dessen Ende er das Tor zur Wahrheit durchschritt, um mit der gleichnamigen Göttin ins Gespräch zu kommen, führt dieser Weg nach oben, in die Sphäre eines Allgemeinen, von der aus die Welt als Einheit und das wahre Wissen als einziges und in sich absolut kohärentes erscheint. Das wäre, wiederum sehr plakativ, eine dominierende Grundstruktur klassischer wissenschaftlicher Methoden. Empirisch erhobene Daten speisen ein als hypothetisch formuliertes HypotheseaModell, aber das einzelne Geschehen, auf das der wissenschaftliche Blick fällt, erscheint, ob im Prozess oder im Ergebnis, immer als Spezialfall des Modells.

Für die andere Seite kommt die Doppeldeutigkeit des griechischen Wortes meta zur Hilfe: Es kann auch übersetzt werden mit: „inmitten“, „dazwischen“. Methode wäre dann ein Gang inmitten, der eine offene Spannung, ein dazwischen, erzeugt. Während Maria Lassnig sich von der inneren Metaposition wegbewegt und sich inmitten ihrer eigenen Tätigkeit und ihrer gebrochenen Kontexte aufhält, geht es neuen inter- und transdisziplinären Ansätzen darum, sich „in die gesellschaftlichen Problemzonen“ hinein zu begeben und sich „‚vor Ort’ an der Erzeugung eines sozial robusten Wissens durch Veränderung der Spielregeln selbst“ zu beteiligen, Arno Bammé in seinem Buch Wissenschaft im Wandel. Bruno Latour als Symptom festgehalten hat (2008, 41).

Das hat methodisch ganz konkrete und radikale Folgen, auf die der Autor des vorliegenden Textes an anderer Stelle ausführlicher, zum Beispiel in dem Text Methoden der Interdisziplinarität (2010) eingegangen ist. Dass der Ort des Denkens, die Position, von der aus gedacht wird, für die das Denken nicht gleichgültig ist, wird von Hegel über Karl Marx bis zur feministischen Standorttheorie ausgeführt, zum Beispiel im Buch Das Geschlecht des Wissens von Sandra Harding (1994).Die klassische Position, der klassische Standort des wissenschaftlichen Wissens, ist die institutionelle Distanz, in der Wissenschaft als akademische betrieben wird. Von der institutionell distanzierten Position her wird methodisch hauptsächlich „deduktiv“ vorgegangen. Empirisch erhobene Daten speisen zwar ein als Hypothese formuliertes HypotheseaModell, aber das einzelne Geschehen, auf das der wissenschaftliche Blick fällt, erscheint, ob im Prozess oder im Ergebnis, immer als Spezialfall des Modells.

Wenn dagegen eine Position „inmitten“ eingenommen wird, geht es zu aller erst darum, die klassische institutionelle Distanz aufzulösen. Die dem entsprechenden Methoden erfordern eher „induktive“ Vorgehensweisen. Sie gehen vom Problem aus, dessen soziale und technische Konstitution sie untersuchen, und verallgemeinern es sozial oder theoretisch schrittweise immer nur so weit, wie es nötig ist, um zu akzeptablen Lösungen zu gelangen. Das ist, wieder sehr plakativ, eine Grundstruktur inter- und transdisziplinärer Methoden.

Aber gerade diese Perspektive bedarf einer kritischen Distanz zu dem, was ist, und damit einer institutionellen Verankerung dieser Distanz. Der französische Philosoph Jacques Derrida hat in seinem gleichnamigen Buch von 2001 versucht, Die unbedingte Universität zu denken, das ist die Institution, die bedingungslos fragen kann und auch die institutionellen Bedingungen des Fragens in Frage stellt. Dem Wort „Professor“ gibt Derrida dabei eine radikale Bedeutung. To profess heißt im Englischen ja „offen erklären“, das lateinische profiteri „sich als Lehrer öffentlich zu erkennen geben“, also geht es darum, sich zu verbürgen, für etwas einzustehen. Fragen und dafür einstehen: Es ist die dringendste wissenschaftspolitische Aufgabe, die wissenschaftlichen Institutionen in diese Richtung zu entwickeln.

Die institutionellen Orte der Künste sind, wenn sie sich auch manchmal für die Künste verbürgen, für sie einstehen, unter ganz anderen Gesichtspunkten zu analysieren als diejenigen, aus denen inter- und transdisziplinäre wissenschaftliche Ansätze sich heraus bewegen wollen. Zwar gehen auch künstlerische Projekte „ins Feld“, wie zum Beispiel das Unterprojekt Unknown Spaces  im Rahmen des zitierten Projekts Knowledge trough Art, in dem das Verhältnis des Ortes Unocity in Wien zu seiner Umgebung mit künstlerischen Interventionen thematisiert wird. Aber viele Künste stehen in einer notwendigen örtlichen Distanz, und sie bedürfen ihrer je eigenen Institution. Aber es ist genauso sinnvoll, gerade die Institutionen künstlerischer Ausbildung mit dem von Derrida formulierten Ideal zu konfrontieren.

Methodisch ist es die von Derrida eingeklagte Unbedingtheit, durch die aktuelle wissenschaftliche Entwürfe und die Künste sich annähern können. Damit ist nicht bloß gemeint, dass sich auch der Normalbetrieb in den Künsten und Wissenschaften aus einer subkutanen Sphäre der Unbedingtheit ernährt. Die Kunstgeschichte und die Wissenschaftsgeschichte sind ja von Gestalten bevölkert, die sich aus aller Konvention hinaus und in Extreme hineinbegeben haben. Das Blut eines Ochsen, den der Maler Chaim Soutine portraitierte, tropfte in die Zimmer seiner Mitbewohner Chagall und Pechstein in La Ruche, einer 1902 gegründeten Künstlerkolonie in Paris. Schon in seiner Jugend hat Justus von Liebig, der Entwickler des Phosphatdüngers, mit seinen Experimenten einen Dachstuhl in Brand gesetzt. Was geschrieben, in Szene gesetzt, komponiert wird, was geforscht und gedacht wird, erscheint als dann Ausnahme, als Bruch, als Verletzung der Regeln und verweist nicht auf eine sichere Identität oder Substanz. Das ist ein Aspekt, der in den wissenschaftlichen Ausbildungsgängen und Publikationen systematisch geleugnet wird.

Die Argumentation muss aber darüber hinaus führen: Das Vorhaben, dieser Unbedingtheit eine methodische Form zu geben, kann ein gemeinsamer Horizont der Begegnung zwischen den Künsten und den Wissenschaften sein.

 

Intensivierung und Extensivierung

Auch hier kann an existierende Naheverhältnisse, speziell an Verhältnisse zwischen der Philosophie und den Künsten, angeknüpft werden. Der Pianist Glenn Gould hat seine Tätigkeit quer zu Musik und Theorie situiert, das kann man in seinen Einspielungen hören und in den Texten nachlesen, die voller Musikbeispiele sind (1986). Und Alfred Brendel hat sich in seinen öffentlichen Vorträgen als Musikphilosoph etabliert (2007). Künstler wie zum Beispiel Peter Weibel demonstrieren künstlerische Zugänge zum Philosophieren. Umgekehrt begründet besonders die Nietzsche-Rezeption in Frankreich eine Form des künstlerischen Philosophierens, als deren herausragende Figur der Literat und Philosoph George Bataille gelten kann. Das zeigt zum Beispiel sein Buch Die Literatur und das Böse (1987).

Bataille wird nun von Jacques Derrida die Frage zugeschrieben, wie das, was die Sprache übersteigt, in diese wieder eingeschrieben werden könne (1976, 382). Bei Theodor W. Adorno, dessen Ästhetische Theorie (1970) als einer der wichtigsten Versuche gelten kann, moderne Kunst umfassend philosophisch zu interpretieren, werden die Künste als die letzten Sphären gesehen, in denen ein Nicht-Identisches, ein Unbedingtes angesichts einer total vergesellschafteten Gesellschaft zum Ausdruck kommen kann. Adorno hat bekanntlich auch selbst komponiert.

Unternehmen wie das von George Bataille, ein Großentwurf wie der von Adorno scheinen nicht mehr möglich zu sein. Zu sehr haben sich die Künste in der Postmoderne „profanisiert“, zu sehr sind sie den Kräften der Märkte der Ökonomie und er Aufmerksamkeit unterworfen, als dass sie die von Bataille oder Adorno formulierten Aufgabenzuschreibungen annehmen könnten. Aber die Überlegungen können in zwei Richtungen gehen. Man kann die mit Bataille und Adorno hier nur plakativ festgehaltenen Ansprüche, nun von den Künsten aus, auf der methodischen Ebene rekonkretisieren. Und man kann sie gerade dadurch in ein Verhältnis zu inter- und transdisziplinären Methoden in den Wissenschaften setzen. Das ist vielleicht zu überzogen und zu voraussetzungs- und konsequenzenreich, als dass es in Kürze verständlich gemacht werden könnte. Aber es lohnt den Versuch, ein diesbezügliches Programm zu skizzieren.

Die Skizze geht von zwei Begriffen aus: Intensivierung und Extensivierung. Sie behauptet, dass sich damit sowohl künstlerische als auch inter- und transdisziplinäre wissenschaftliche Methoden beschreiben lassen. Was heißt Intensivierung? Was im Sinne von Derrida der Sprache eingeschrieben wird, ist nicht zwischen den Zeilen lesbar, sondern kommt intensiv als Sprache, als Ton, als Bild zum Ausdruck. Was heißt Extensivierung? Extensiv ist der Ausdruck, insofern er immer schon in die Anderen einbezogen ist und das Andere und die Anderen in sich mit ein bezieht

Dem folgt die Behauptung, dass eine Gegenläufigkeit von Intensivierung und Extensivierung sich in der künstlerischen Tätigkeit vollzieht. Dies geschieht, wenn die künstlerische Tätigkeit sich abwendet, um in einem Akt zugleich als ein absolut Fremdes in die extreme Nähe zu den anderen zurückzukehren.Edward W. Said zum Beispiel beschreibt in seinem Buch Der wohltemperierte Satz (1995) die musikalische Aufführung als Extremsituation zwischen absoluten Rückzug der KünsterInnen in sich selber, Said nennt das Narzissmus, und ihre gleichzeitige Offenheit, ja Aufgerissenheit zu den anderen KünstlerInnen und zum Publikum hin. Es ist die Ferne, in die der Narzissmus die Künstler rückt, und ihre gleichzeitige Zuwendung, die nach Said etwas „Einmaliges, Unwiederholbares“ hervorbringen. Intensivierung und Extensivierung erscheinen als Ausdruck der literarischen Produktion, wenn Paul Celan in seiner Rede Der Meridian formuliert: „Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben. Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung – im Geheimnis der Begegnung?“ (2000, dritter Band 198). Einsamkeit bedeutet das Hindurchgehen durch das Verstummen, durch einen Verlust bei Celan der deutschen Sprache, durch eine Abwendung, die sich als Gedicht ausdrückt. Unterwegs ist das Gedicht, wie es in der Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen heißt, auf „etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit“ (186).Die Intensität und Extensität der damit verbundenen Erfahrung hat Celan an der zuerst zitierten Stelle als Aufforderung formuliert: „…geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setzte dich frei“ (200).

Die künstlerische Produktion und ihre Produkte sind also einerseits, wie Ursula Brandstätter in ihrem Buch Grundfragen der Ästhetik von 2008 schreibt, „eine Wirklichkeit für sich, ohne Bezugnahme auf eine Welt außerhalb ihrer selbst“, und sie kommen andererseits aus einer Welt, richteten sich an eine Welt und beziehen diese ein, was die „doppelte Seinsweise von Kunst“, so Brandstätter, als gleichzeitigen Vollzug ihrer beiden Seiten ausmacht (2008, 33).

Die künstlerische Tätigkeit auf methodischer Ebene als Vollzug dieser Gegenläufigkeit zu betrachten, hat zwei Vorteile: Die Betrachtung liefert eine zurückgenommene Bestimmung, weil sie auf keinen metaphysischen Hintergrund, auf das Schöne, auf die Götter oder sonst ein Allgemeines bezogen ist. Und sie liegt quer zu den Tätigkeiten des Produzierens und Aufführens, des Komponierens und Musizierens, des Lesen und Schreibens, des Aufzeichnens und Sehens, des Arrangierens und Erfahrens, des Schaffen und Rezipierens. Gerade dadurch wird es möglich, sie mit wissenschaftlichen Methoden in Bezug zu setzen.

Denn letztlich will die Zuwendung zum konkreten Geschehen, wie sie sich methodisch in inter- und transdisziplinären Forschungsprozessen vollzieht, das, was geschieht, nicht als bloßen Spezialfall schon fertiger Modelle konzipieren, und es gerade dadurch intensivieren. Wie zum Beispiel in dem bereits zitierten Projekt zur medizinischen Humangenetik geht es nicht darum, fertige ethische Modelle zum Beispiel auf die Möglichkeit der genetischen Prognose schwerer Krankheiten anzuwenden. Zum Thema wird immer das konkrete Geschehen, zum Beispiel Fall einer Person, der eine unausweichlich letal verlaufende Krankheit prognostiziert wird. Das Geschehen wird intensiviert und der vorgefassten und modellhaften Interpretation entrissen. Wenn aber gleichzeitig mit dem Fall die damit verbundenen wissenschaftlichen und politischen, technologischen und institutionellen Bedingungen in den Blick geraten und die Frage nach möglichen Konsequenzen aufgeworfen wird, wird das Thema extensiviert.

Das wäre ein Vorschlag für einen gemeinsamen Horizont, auf den wissenschaftliche und künstlerische Wissenskulturen hinsprechen könnten.

 

Übersetzung und Transformation

Wenn aber nun ein Dialog zwischen Wissenskulturen beabsichtigt ist, müssen dennoch und zu aller erst die Unterschiede klar sein:  Es müssen die sehr unterschiedlichen Pole in Rechnung gestellt werden, von denen aus die Seiten aufeinander zugehen.

Man kann Wolfgang Krohn folgen, der in einem Aufsatz (2012) zusammenfasst: Der Generalisierung, der Komplexitätsreduktion durch Abstraktion, der Wertfreiheit, der Ähnlichkeit zwischen den Objekten, der Einschränkung des Zufalls, dem Nutzen durch Verallgemeinerung und dem ästhetische Ideal der Eleganz auf der Seite der Wissenschaften stehen die Individualisierung, die Komplexitätserhöhung, die Wertgeladenheit, die Differenz zwischen Objekten, die Bedeutung des Zufalls, der Nutzen durch das Besondere und schließlich das ästhetische Ideal der Fülle auf Seiten der Künste gegenüber.

Erst wenn diese existierenden Unterschiede nicht vorschnell verschliffen werden, setzt sich die wesentlichste Produktivkraft einer Begegnung von Wissenskulturen frei, und das ist die wechselseitige Störung. Was dann geschieht, könnte ein Prozess der Übersetzung sein, nicht der Übersetzung von einer Sprache in eine andere oder das Aufheben aller Differenzen in einer Metasprache, sondern das Setzen über einen Abstand hinweg, der offen bleibt, eine Übersetzung, in der sich jeweils, wie Martin Heidegger einmal geschrieben hat, „das, was zu sagen ist, übergesetzt hat in eine andere Wahrheit und Klarheit oder auch Fragwürdigkeit“ (1982, 18).

Das Zusammenwirken unterschiedlicher künstlerischer und unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden wäre ein solcher Vorgang der Übersetzung. Der Vorgang kann nicht deduktiv deklariert, sondern nur induktiv, inmitten in und aus der Situation der Begegnung heraus, erprobt werden. Was sich in diesem Prozess der Störung und Begegnung ereignet, wäre Gegenstand einer „Ästhetik der Transformation“, die Ursula Brandstätter vorschlägt. Dieser Prozess hat noch keine entwickelte soziale Form. Ein solcher Prozess könnte sich aber an einem Ideal orientieren, das schon Kant in seiner Kritik der Urteilskraft mit der Unterscheidung zwischen „Taschenspieler“ und „Seiltänzer“ angesprochen hat. Während der „Taschenspieler“ immer schon weiß, wie es geht, und nur einstudierte Bewegungen vollzieht, übt der „Seiltänzer“ im eigentlichen Sinne eine Kunst aus. Der französische Philosoph Michel de Certeau erläutert in einem Buch Kunst des Handels dieses Motiv: „Auf einem Seil zu tanzen bedeutet, in jedem Moment das Gleichgewicht zu bewahren, indem man es bei jedem Schritt durch neue Korrekturen wiederherstellt; es bedeutet, an einem Verhältnis festzuhalten, das niemals erworben worden ist und das durch eine unaufhörliche Erfindung ständig wiederhergestellt wird…“ (1988, 150).

Der Prozess der Begegnung zwischen Wissenkulturen, der an Grenzen entlang balanciert, wäre damit selbst ein künstlerischer Prozess.

 

Literatur

Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Bammé, Arno (2008): Wissenschaft im Wandel. Bruno Latour als Symptom, Marburg: Metropolis.

Bataille, George (1987): Die Literatur und das Böse, München: Matthes & Seitz.

Baumgarten, Alexander Gottlieb (2007): Ästhetik, 2 Bände, Hamburg: Meiner.

Berger, Wilhelm (2010): Methoden der Interdisziplinarität. In: Werner Lenz (Hrsg.): Interdisziplinarität. Wissenschaft im Wandel, Wien: Löcker.

Brandstätter, Ursula (2008): Grundfragen der Ästhetik, Wien, Köln, Weimar: Böhlau.

Brendel, Alfred (2007): Über Musik. Sämtliche Essay und Reden, München und Zürich: Piper.

Celan, Paul (2000): Gesammelte Werke in sieben Bänden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve.

Derrida, Jacques (1976): Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Derrida, Jacques (2001): Die unbedingte Universität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Feyerabend, Paul (1984): Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Gould, Glenn (1986): Von Bach bis Boulez. Schriften zur Musik I, München und Zürich: Piper.

Groys, Boris (2004): Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt a. M.: Fischer.

Harding, Sandra (1994): Das Geschlecht des Wissens, Frankfurt a. M.: Campus.

Heidegger, Martin (1982): Identität und Differenz, Pfullingen: Neske.

Klee, Paul (1997): Pädagogisches Skizzenbuch, Berlin: Gebr. Mann.

Krohn, Wolfgang (2012): Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdiziplinären Projekten, in: in: Tröndle, Martin & Warmers, Julia (Hrsg.) (2012): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft,Bielefeld: Transcript.

Paul, Jean (1974): Vorschule der Ästhetik, Hamburg: Meiner.

Platon (1958): Politeia, Sämtliche Werke 3 (Schleiermacher), Hamburg: Rowohlt.

Said, Edward W. (1995): Der wohltemperierte Satz, München: Hanser.

Winkler, Josef (1994): Das Zöglingsheft des Jean Genet, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.