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über soutine

Ich spreche keine Sprache nicht

Die Geschichte von der Frau mit dem durch­sichtigen Kopftuch, auf dem silberne Toten­köpfe aufgedruckt sind, von den roten Gla­diolen auf dem Totenbett von Chaim Soutine und vom Kunstmaler Georg Rudesch, der die Totenmaske seines Vaters in den Händen hält

Als ich, aus dem Zugfenster schauend, bei einem Bauernhof eine alte Frau sah, die zwei Hühner hinter den Flügeln gefaßt hatte und auf ein eingezäuntes Feld zuging, in dem zwanzig, dreißig Hühner nach Würmern suchten, fiel mir meine inzwischen verstorbene Mutter ein, die immer dann ein Huhn hinter den Flügeln gepackt hielt, wenn sie damit zur Schlachtung in den Stall ging. Sie faßte das Huhn vor der Jaucherinne an den Beinen, so daß der Kopf nach unten hing, betäubte es mit einem Holzscheit, klemmte es zwischen ihre Beine, bog den Hals nach hinten, rupfte die Federn aus dem Kragen und säbelte mit einem gewetzten Messer langsam dem zitternden und mit den Flügeln schlagenden Tier den Hals auf, so daß Blut ringsum spritzte, auf die Beine der Kühe und auf ihre Schürze und auf ihr schwarzes Schuhwerk. Während der zwölfstündigen Zugfahrt nach Paris las ich in der Biographie von Edmund White über Jean Genet, daß die gallige Coco Chanel, wie er sie nannte, die eine lebenslange Freundin von Cocteau war, der Genet entdeckte, förderte, vor Gericht verteidigte, den Dichter und Filmemacher Jean Cocteau als ein »amüsantes Insekt« bezeichnete. Er ließ sich von ihr seine Opiumentziehungskuren bezahlen, und auch die Beerdigung seines im Alter von zwanzig Jahren verstorbenen Geliebten, des Schriftstellers Raymond Radiguet, der den Roman »Den Teufel im Leib« schrieb, wurde von ihr organisiert. Weiße Pferde sollen einen mit weißen Rosen über und über geschmückten Sarg gezogen haben. Als der exzentrische Cocteau Marcel Proust am Sterbebett aufsuchte – Proust verglich Cocteau mit einem Seepferdchen –, sah er einen großen Stapel von Schreibheften neben dem Sterbenden liegen und sagte: »Dieser Stapel Papier zu seiner Linken lebte weiter wie die Uhr am Handgelenk toter Soldaten.« Im TGV saß vor mir ein Mann mit zerknitterter schwarzer Lederjacke, verschmierten, weitsichtigen Augengläsern, der zuerst stundenlang in einer Sportzeitung, später in der satirischen Wochenzeitung mit dem rotgedruckten Namen »Le Canard enchaîné« las. Er hatte mehrere Plastiksäcke von ALDI zu seinen Füßen, nahm dann und wann kosmetische Produkte aus den Säcken, entzifferte die kleingedruckten Texte auf den Plastikflaschen, steckte sie wieder in die Plastiksäcke und las weiter in der Zeitung.

In der Metro, auf der Fahrt vom Gare de l’Est nach Montparnasse, mein aufgeschlagenes Notizbuch in der Hand haltend, in dem ein Foto des aufgebahrten Chaim Soutine und das Gemälde seines schönsten Ministranten eingeklebt war, sah ich ein Plakat mit den Porträts der in Stein gehauenen amerikanischen Präsidenten, dem sogenannten »Mount Rushmore National Memorial«, als Whisky-Werbung der Firma »Four Roses«, auf dem der in Stein gehauene Roosevelt eine rote Rose im Mund hatte. Ein paar Metrostationen weiter tauchte diese Four-Roses-Whisky-Werbung noch einmal auf, aber jetzt mit vier nebeneinander auf einem Ast hockenden Geiern, wobei ein Geier eine Rosenblüte in seinem Hakenschnabel hielt. Beim Metro-Abgang in Vavin saß wenige Meter neben einem sich in den Armen eines Mädchens ausruhenden jungen Mannes, dessen nackte Arme und Arbeitskleider voller Kalkspritzer waren, eine sechzehnjährige schwarzhaarige, bettelnde Zigeunerin, die den Passanten einen leeren Eisbecher entgegenstreckte. Küchenschürzen anbietend, auf denen der Eiffelturm aufgedruckt war, schlenderte ein kleiner, bloßfüßiger Zigeunerjunge an der Metrostation vorbei. Als Taschen waren rosa und rote Büstenhalter mit Spitzenwerk auf die Küchenschürzen genäht. Am Straßenrand fuhr ein Auto ins Wasserrinnsal und bespritzte mit einem Schwall zwei völlig überraschte, gerade von der Metro über die Stiege heraufkommende und ins Freie tretende junge Frauen. Die eine Frau lachte und wischte sich das Wasser vom Kopf, die andere konnte sich gar nicht beruhigen, sie ließ ihre Tasche fallen, warf mehrmals die Hände vors Gesicht und rief: »My god, my god.«

Auf der Place d’Italie, vor dem Café Marguerite, wo ein verworrener junger Brasilianer, Grimassen schneidend und schimpfend, von Tisch zu Tisch ging, saßen zwei bereits um die Mittagszeit angeheiterte Männer, die sich kokett mit einem jungen, ein rotes Leibchen mit der Aufschrift »Aides« tragenden und Geld sammelnden Mädchen unterhielten. Einer der angetrunkenen Männer, der das Mädchen auf ein Getränk einladen wollte, sagte, daß er jetzt schon lieber im Himmel als auf Erden wäre. Während der Kellner für die beiden Männer die nächsten Biere brachte, ging das Mädchen weiter und sprach einen älteren, sich verärgert abwendenden Mann an. Eine rotwangige Zigeunerin mit einem blau-weißkarierten Kopftuch und mit vergoldeten Zähnen bot den Passanten einen blauvioletten Fliederbusch an. Auch ihr kleiner, eine petrolfarbene Jacke tragender Sohn hielt einen weiß-violetten, zusammengebundenen Fliederbusch in den Händen. Eine dunkelhäutige, mit einem schwarzen ärmellosen Leibchen und einer kurzen Turnhose bekleidete Frau trug ein schwarzes, dünnes, fast durchsichtiges Kopftuch – ähnlich dem Schleier eines Bahrtuches –, auf dem silberne Totenköpfe aufgedruckt waren. In der rechten Hand hielt sie einen Sack voller Lebensmittel, in der linken ein weißorangefarbenes Handy. Nachdem ich sie – ständig auf ihr am Nacken verknotetes Kopftuch mit den grauen Totenköpfen schauend – eine Zeitlang verfolgt hatte, fiel mir eine große Narbe auf ihrer rechten Gesichtshälfte auf, offenbar von einer Hauttransplantation nach einer Hautkrebserkrankung. Ich ging ihr noch auf der Straße nach und starrte auf den Knoten ihres Kopftuches, in dem mehrere, auf dem Tuch aufgedruckte, zusammengeknüllte Totenköpfe verbarrikadiert waren. Über den an Fleischerhaken hängenden, gegrillten und glacierten Enten mit schwarz angekohlten Köpfen und geöffneten Schnäbeln klebte im Schaufenster eines Fleischerladens eine Perrier-Werbung. Eine blonde, Marilyn Monroe ähnlich sehende Frau, die einen dunkelgrünen Badeanzug und rote, offene Stöckelschuhe trug, saß aufreizend mit einem hocherhobenen Bein auf einer überdimensionalen Per­rier-Mineralwasserflasche und hielt, dem Passanten in die Augen schauend und ihm zuprostend, ein perlendes Glas Sekt mit einer aufgesteckten Limonenscheibe in den Händen. Unter dem Plakat, auf einem Tablett, lagen in Plastik eingepackte Schweinsschwänze – »queues de porc« –, die man für 5,80 Euro kaufen konnte, neben ein paar weichen, knochenlosen, ebenfalls zum Verkauf angebotenen Hühnerkrallenhäuten mit abgeschnittenen Nägeln. Zwei schöne chinesische Jungen rollten mit ihren Rollschuhen am Schaufenster vorbei, gefolgt von einem Vater, der mit der einen Hand einen Kinderwagen mit einem Kleinkind vor sich herschob und mit der anderen Hand das vorauslaufende größere Kind fotografierte. Ein bettelnder, dicker, zahnloser Mann saß vor dem Schaufenster eines Pompes-funèbres-Geschäftes, hielt eine herzförmige, mit rotem Samt ausgelegte Schatulle in der Größe eines Zweieurostücks in den Händen und bat die Vorbeigehenden, ein Geldstück ins Herz zu legen.

Auf dem Friedhof Montparnasse, am Grab von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, lagen neben ein paar verblühten Chrysanthemen eine langstielige, vertrocknete Rose, eine Orange und zwei handgeschriebene Briefe an die beiden berühmten Toten auf der Grabplatte. Bei einem mannshohen, in Glas eingehüllten Kindergrab war der Arm eines auf einem Fisch mit weit hervorstehenden Augen hockenden Gipsengels abgebrochen. Als wären wir gerade auf einem Flughafen, rollte ein Kaugummi kauender Mann, bekleidet mit einem kurzärmeligen weißen Hemd und einer schwarzen, sorgfältig gebügelten Hose, seinen Koffer neben sich her auf dem Asphalt zwischen den Gräberreihen entlang. Seinen schwarzen, mit einem goldenen Offiziersabzeichen versehenen Rock hatte er über den nackten Unterarm gelegt. Bei einem anderen Grab standen vor einem zwei Meter hohen Steinkreuz zwei große steinerne Löwen. Deutlich und sorgfältig hatte der Bildhauer die Adern der Löwen am Hals und am Bauch herausgearbeitet. Einer der beiden dickbäuchigen Steinlöwen hatte ein vom Regen vollkommen ausgewaschenes, leeres Auge. Beschwert von einem Stein, lag ein Metroticket am Grab von Charles Baudelaire neben einem Strauß bordeauxfarbener Tulpen, Plastikrosen und ebenfalls einem handgeschriebenen Brief. Der Text des Briefes war mit einem roten Herzen eingerahmt. Lange schaute ich auf die verschiedenen roten Fältchen mehrerer Lippenabdrücke auf dem hohen Grabstein Baudelaires. Schwere Limousinen und schwarze Taxis fuhren am Friedhof ein, schwarz und dunkelblau gekleidete, Sonnenbrillen tragende Leute umarmten einander. Der Par­fumgeruch war stärker als der Abgasgeruch der Autos. Der Leichenwagen war vollgestopft mit eingequetschten Blumenbuketts und an den Fensterscheiben plattgedrückten Rosen- und Nelkensträußen. Den Sarg konnte man nicht sehen. Hinter den schwarzen und dunkelblauen Kleidern der sich bewegenden Leute schimmerten auf einem großen Beet Hunderte aufgeblühter orangefarbener Tulpen.

Als ich die kleine, ungefähr zwanzig Zentimeter lange Marmorplatte mit dem eingemeißelten Namen des 1943 elend zugrunde gegangenen Malers Chaim Soutine bewegte, die lose auf der Grabplatte über einem christlichen Kreuz lag, fiel mir ein, daß der erste Grabstein des in Marokko, in Larache, hoch über dem Atlantischen Ozean auf einem völlig verwahrlosten spanischen Soldatenfriedhof begrabenen Jean Genet gestohlen wurde, und ertappte mich bei dem Gedanken, ob ich nicht die kleine Steinplatte, auf der »C. Soutine« steht, in meiner Tasche verschwinden lassen sollte. Mehrere Käfer liefen über den fast schon verwitterten, auf der großen, dicken Grabplatte eingemeißelten Namen von Marie-Berthe ­Aurenche, der letzten Lebensgefährtin von Chaim Soutine und ehemaligen Frau von Max Ernst, die im Jahre 1960 in Sou­tines Grab beigesetzt wurde. Neben einem kleinen Töpfchen mit halbverblühten orangefarbenen Primeln wuchs zwischen Grabplatte und Umrandung ein einziges, noch nicht aufgeblühtes Maiglöckchen. Während ich eine Zeitlang mit meinem Notizbuch – den Finger hatte ich eingeklemmt zwischen dem Bild eines von Soutine gemalten Chorknaben und dem auf einem weiß ausgeschlagenen Bett aufgebahrten Chaim Soutine – am Grab saß und an meine erste Reise nach Paris dachte, als ich im Alter von zwanzig Jahren den Kunstmaler Georg Rudesch begleitete, der das erste Mal in seinem Leben die Bilder seines verehrten Malers Chaim Soutine im Original sehen wollte, kam ein Ehepaar mit seinem fünfunddreißigjährigen Sohn vorbei, die alle Prominentengräber abklapperten. Der Sohn hielt eine lange Namensliste in der Hand und machte, sobald er wieder ein Grab gefunden hatte, ein Kreuz über dem aufgeschriebenen Namen.

Auf der linken Seite meines aufgeschlagenen Notizbuches war der Leichnam von Chaim Soutine abgebildet, ein Foto von Rogi André, und auf der rechten Seite des Notizbuches der schönste und traurigste Meßknabe von Soutine – de goj mit de dampf – im weißen Spitzenchorhemd und mit einem roten, fast zu den Knöcheln hinunterhängenden Ministrantenrock. Es war an einem Dezembermorgen, es war erst sechs Uhr, ich ging noch nicht in die Schule, links und rechts standen vor meinem Elternhaus die zwei Meter hohen Schneewächten, ich hockte im Schlafanzug in der Küche hinter dem Tisch am Fenster und sah zuerst den Pfarrer Franz Reinthaler und danach die Pfarrermarie, wie wir sie nannten, die Pfarrerköchin Maria Köhldorfer, über den beschneiten, da und dort eisigen Pfarrhügel hinunter in die Kirche zur Rorate gehen. Kaum war auch die Pfarrermarie auf der Höhe unseres Hauses, lief ich mit nackten Füßen in meinem gestreiften Schlafanzug in den Schnee hinaus und wollte mit ihr in die Kirche gehen. Die Schwester lief mir nach, holte mich in der Mitte des Dorfes ein und brachte mich, der schrie und zappelte, in ihren Armen ins Haus zurück, aber bereits am nächsten Tag hatte ich mein Ziel erreicht und kniete stolz mit gefalteten Händen als neuer, eingekleideter Ministrant an den Stufen des Altars, vor dem die Messe zelebrierenden Pfarrer. Zum Ärger meines Vaters – er stritt oft mit dem Pfarrer – holte ich aus unserem Schuppen einen Eimer voll Sägespäne und streute sie auf die eisigen Stellen am Pfarrhofhügel. Meinen nächsten Sägespänediebstahl organisierte ich, als der Vater außer Haus war. Nach jeder Schlachtung bat ich meine Mutter, auch für den Pfarrer und für die Pfarrermarie ein Stück Schweinefleisch abzuschneiden. Oft ging ich stolz mit einem frischen Stück Fleisch über den eisigen Pfarrhügel hinauf und läutete an der Pfarrhofstür: »Das schickt die Mame  !« sagte ich.

Der Großvater war bereits verstorben, der Pfarrer kam wieder einmal zur bereits bettlägrigen Großmutter, um ihr die Beichte abzunehmen und die heilige Kommunion zu geben. Ich sah ihn zum vereinbarten Zeitpunkt über den Pfarrhügel kommen, empfing ihn an der Haustür mit einer brennenden Kerze und ging, ihm voraus, über die sechzehnstufige Stiege ins Zimmer zur betenden und ständig ihre beiden Daumen umeinander drehenden zahnlosen Großmutter mit den eingefallenen Lippen. Während ihr der Pfarrer die Beichte abnahm, mußte ich das Zimmer verlassen, ging auf den Balkon hinaus, schaute auf die vor dem Stalltor herumhüpfenden Spatzen hinunter oder aufs Schwalbennest am Gestänge des Balkons und wartete, bis mir der Pfarrer ein Zeichen gab. Zurückgekommen ins Zimmer, schaute ich aus dem Fenster, als der Pfarrer zur Großmutter sagte und auf mich deutete: »Das ist mein Erzministrant  !« Während er ihr den Leib Christi verabreichte, die im Bett liegende Großmutter ihre breite Zunge herausstreckte, stand ich, die Zähne zusammenbeißend, neben dem Pfarrer, denn das Wachs der brennenden Kerze tropfte auf meine Hände.

Verschwommen ist das bärtige Gesicht mit den starken dunklen Augenbrauen des toten Chaim Soutine auf dem Foto von Rogi André, das ich neben einem Ministranten in meinem Notizbuch kleben hatte, mit dem ich in Montparnasse eine Zeitlang am Grab des Malers saß, der im Jahre 1943, auf der viel zu lange dauernden Flucht vor den Nazis, während einer Magenoperation in Paris auch durch einen Spezialisten nicht mehr gerettet werden konnte und auf einem mit einem weißen Tuch ausgelegten Bett aufgebahrt wurde. Sein Mund ist verzerrt, seine auf einer ebenfalls weißen Bettdecke liegenden knochigen Hände sind geschlossen zum christlichen Gebet, seine Fingernägel und Fingerspitzen sind noch voller Malfarben. Die Ärmel eines alten, wohl auch von Malfarben schmutzigen Hemdes, das nun zu seinem Totenhemd wurde, sind ebenfalls voller Schmutz. Zu seinen Füßen, bis zu den Hüften hinaufreichend, liegen eine weiße und mehrere rote Gladiolen, wie Soutine sie so gerne gemalt hat, die mich an meinen Großvater Josef Winkler erinnern. Am Tage seines Begräbnisses – ich war acht Jahre alt –, wenige Stunden, bevor der Sargdeckel geschlossen wurde und sich der Leichenzug in Bewegung setzte, sagte der Vater: »Buben, gehts in den Garten und bringts dem Opa noch ein paar Blumen  !« Wir nahmen aus der Küchenschublade ein Messer, schnitten im Garten weinend die langen Gladiolen ab und legten sie auf den Körper des inzwischen schon drei Nächte aufgebahrten Verstorbenen. Sein Leichnam war über und über mit Blumen bedeckt, vor allem mit Gladiolen und den ebenfalls verschiedenfarbigen Astern, so daß man nur mehr sein Gesicht sehen konnte. Bei seinem Begräbnis durfte ich nicht ministrieren, saß unter den verwandtschaftlichen Trauergästen in der Kirchenbank und trug die mich tief bedrückende, stigmatisierende schwarze Trauerflorschleife am Ärmel meines Rockes, denn zu Füßen des vor dem Altar stehenden Sarges neben einem Kruzifix und einer Kaffeeschale mit Weihwasser, in der ein Fichtenzweig lag, war auch der schwarzumrandete Partezettel angebracht, auf dem Josef Winkler stand.

Ich war sechzehn Jahre alt, beschäftigte mich längst mit moderner europäischer Literatur, ging in die Handelsschule und wurde vom Kunstmaler Georg Rudesch, der von den Schülern tagtäglich gehänselt und verspottet wurde, die ihn in der immer unruhigen und lauten Klasse manchmal zur Weißglut brachten, im uns alle langweilenden Fach »Betriebskunde« unterrichtet. Oft ging er mit einem Plastiklineal die Bankreihen entlang und schlug aus Verzweiflung einem Schüler die Linealkante auf den Schädel. Ein Schülerfeind hielt ihm einmal ein Messer unter die Nase und sagte: »Schauen Sie sich das an, Herr Professor, schauen Sie sich das genau an. Ich will ja nichts sagen, aber . . .  !« Abgesehen davon, daß ihm aufgefallen war, daß ich im Unterricht häufig unaufmerksam war und unter der Bank immer ein Buch liegen hatte – ich mußte ihm einmal den »Schnee auf dem Kilimandscharo« von Hemingway aushändigen –, bemerkte er auch, daß ich mein blasses Gesicht mit den tiefen, dunklen Augenrändern ungeschickt und auffällig mit braunem Make-up schminkte. Oft blieb er amüsiert vor mir stehen, schaute mich lange an und fragte mich, was ich denn da dauernd in mein Gesicht schmiere und ob diese Schminke denn meine Tarnfarbe sei. Wenn meine Cousine Erna auf dem Bauernhof auftauchte, mir und meinem älteren, ebenfalls auffällig bleichen Bruder ins Gesicht schaute, sagte sie amüsiert: »Die Leichen  !« Manchmal bekam sie dabei einen Lachanfall, während wir uns zu Tode schämten und auf der Stelle im Erdboden verschwinden wollten. Wöchentlich zeigte ich ihm meine neuen Bücher, die ich mit dem vom Vater gestohlenen Geld gekauft hatte, das eine und andere nahm er mit nach Hause und brachte es mir ein paar Tage später wieder zurück. Kaum zwei Jahre nach meinem Eintritt in die Villacher Handelsschule lud er mich das erste Mal in seine Wohnung ein, nach Spittal an der Drau, zehn Kilometer von meinem Heimatdorf Kamering entfernt, wo er mit seiner Tante Felicitas Rudesch lebte. 1945 flüchtete der Fünfzehnjährige mit seinem Vater und mit seiner Tante aus Jugoslawien. Seine Mutter, eine Deutsche, wurde von Partisanen verschleppt. Über diese Verschleppung sprach er kaum einmal ein Wort, er beklagte sich auch nie über die Partisanen, die wahrscheinlich seine Mutter, so deutete er es einmal an, umgebracht hatten. In seinem Wohnzimmer, das gleichzeitig sein Schlafraum war, hingen zwei Ölbilder von Herbert Boeckl, ein Blumenstilleben und eine Ölskizze vom Place de la Concorde in Paris. Ständig stand ein Strauß mit frischen Schnittblumen auf dem Wohnzimmertisch. Er zeigte mir die Totenmaske seines Vaters und erzählte, daß einer seiner jetzigen Schüler in der Handelsakademie der Enkel des Mannes sei, der seinem Vater die Totenmaske abgenommen habe. Den Gips für die Totenmaske habe er selber eingekauft. Der Totenmaskenmensch, wie er ihn nannte, sei mit dem Fahrrad zur Wohnung gekommen und habe seinem noch im Bett liegenden toten Vater mit Schweinsfett das Gesicht eingeschmiert und den Gips aufs Gesicht gelöffelt. Tausend Schilling, fast ein Viertel seines damaligen Monatsgehaltes, habe er für das Abnehmen der Totenmaske gezahlt. Eigenartigerweise, so erzählte er, sei der Totenmaskenmensch auf dem Villacher Waldfriedhof in der Nähe seines Vaters begraben.

Bei meinen häufigen Besuchen las ich ihm und seiner Tante Gedichte von Eduard Mörike, Heinrich Heine und Clemens Brentano vor, später Christine Lavant und Paul Celan, »Das Gespenst von Canterville« von Oscar Wilde und »Das Fräulein von Scuderi« von E. T. A. Hoffmann. Seine katholische, gutmütige und friedfertige Tante Felicitas Rudesch, die über Jahrzehnte in meiner Anwesenheit kaum einmal ein böses Wort über irgendeinen Menschen verlor – er nannte sie auch: »Meine herzensgute Tante  !« –, verachtete die Bilder von Francis Bacon. »Ich hasse die Bilder von Francis Bacon  !« sagte sie öfter zu mir, während ich und ihr ebenfalls katholischer und abergläubischer Neffe Georg oft amüsiert vor dem Bild des einen Todesschrei auf seinem Thron ausstoßenden violetten Papstes Urban saßen, das mich damals tief beeindruckte. Eine ihrer stehenden Redewendungen war: »Das ist zuviel des Guten  !« Sie spürte meine homoerotischen Neigungen und sagte öfter: »Oscar Wilde ist sehr gefährlich, sehr gefährlich  !« Sie zitierte öfter aus dem Gedächtnis auf englisch aus dem Theaterstück »Bunbury« oder aus dem Märchen »Der selbstsüchtige Riese«. Wenn wieder vom Tod Oscar Wildes die Rede war, zündete sie eine Kerze an und lauschte meinen Ausführungen, die ich aus einer Biographie vorlas. Bevor Oscar Wilde in einem kleinen Pariser Hotel starb, wurden ihm zwei Blutegel an die Schläfen gesetzt. Zwei Franziskaner-Nonnen hielten die Totenwache. Jemand wollte eine Fotografie vom Leichnam Oscar Wildes machen, der um den Hals einen geweihten Rosenkranz trug, aber in dem Augenblick, als die ungeduldigen Bestatter schon bereit waren, den Deckel auf das Sargunterteil zu legen, funktionierte das Blitzlicht des Fotoapparates nicht, so daß man seinen stark von Gasen aufgeblähten Leichnam auf dem Foto nur undeutlich sehen kann.

Georg Rudesch zeigte mir auf Postkarten – er hatte mehrere tausend Kunstpostkarten –, in Hunderten Büchern und in den großformatigen italienischen »I maestri del colore« Bilder von Michelangelo, Raffael, Rembrandt, Picasso, Cézanne, van Gogh, die Höllenbilder von Hieronymus Bosch, die mich besonders beeindruckten, den »Triumph des Todes« von Pieter Brueghel, den ich mein ganzes Leben nicht mehr aus den Augen verloren habe, und viele andere Bilder. Innerhalb von wenigen Jahren hatte ich, der bislang nur rustikale Heiligenbilder kannte, in Farbdrucken Tausende Bilder aus der Kunstgeschichte kennengelernt, von der Höhlenmalerei bis in die Moderne. Vor allem aber zeigte er mir immer wieder die Bilder des von ihm hochverehrten Chaim Soutine und erzählte Anekdoten aus dem ungeheuerlichen Leben dieses jüdischen Malers, der im Alter von zwanzig Jahren aus Litauen nach Paris fuhr, in die damalige Hauptstadt der Künste, um Maler zu werden. In einem englischen Soutine-Katalog blätternd, sagte er: »Schauen Sie, dieser Stiegenaufgang schaut aus wie der offene Brustkorb eines Menschen  ! Die Blüten der Gladiolen auf diesem Bild, sind es nicht herunterhängende, geschlachtete Kaninchen  ? Schauen Sie sich bei diesem Bild die gierigen, zugreifenden Gabeln auf dem Fischteller an  ! Erkennen Sie sich wieder im zermarterten Gesicht dieses eingekleideten Ministranten, damals, als Sie immer wieder diesen eitrigen Ausschlag im Gesicht hatten  ?« Mit seinen Maler­utensilien begleitete ich ihn oft in die Kameringer Auen, wo er über Jahrzehnte die immer selben Landschaftsmotive suchte. Mit einem feuchten, großen, von Chaim Soutine inspirierten Ölbild – als wäre es eine Monstranz mit dem Allerheiligsten – ging ich an den mit Stacheldraht umzäunten Feldern meines Vaters vorbei auf die Kirche zu, über den Weiherbichl hinauf und begleitete ihn zur Omnibushaltestelle. Einmal erzählte er mir, daß er seinen Silvesterabend mit Leonardo da Vinci verbracht, in seinem Bett gehockt und die Kunstkarten, auf denen Motive von da Vinci abgebildet waren, bis weit ins neue Jahr hinein angeschaut habe. »Ums Leben gerne«, sagte er, »hätte ich mir dabei die Neunte Sinfonie von Ludwig van angehört, aber ich habe es nicht gewagt, den Plattenspieler einzuschalten, so gewaltig ist diese Sinfonie, und so einen großen Respekt habe ich vor ihr.«

In den Sommerferien quartierte er sich immer einen Monat lang im Maltatal, auf der Osnabrücker Hütte, ein, wo er oft in Hunderten Bildern die immer selbe Bergwelt und den Stausee der Kölnbreinsperre malte. Jährlich besuchte ich ihn über mehrere Tage oder über eine ganze Woche und quartierte mich ebenfalls auf der Almhütte ein. Auf dem Fensterbrett seiner kleinen Hüttenkammer standen ein kleines Kruzifix und ein Medizinfläschchen mit Weihwasser, die ihm die Geister und Gespenster vom Leib halten sollten. Einmal, so erzählte er mir, habe er in einer Nacht, als die Gäste und die Wirtsleute schon schliefen, einen Geist in der Hütte Holz hacken hören. Am ganzen Körper zitternd, mit angezogenen Beinen, sei er winselnd im Bett gelegen, habe sich mit Weihwasser beträufelt, das kleine Kruzifix auf seine Brust gedrückt und ununterbrochen gebetet, bis in die frühen Morgenstunden hinein. Wenn er mit seinem Malerwerkzeug unterwegs war, hatte er jedesmal das Kruzifix und das Fläschchen Weihwasser in seinem Rucksack. Tauchte er in den Sommerferien auf der Almhütte auf, begrüßte die Wirtin den gerngesehenen Gast schon an der Türschwelle mit den Worten: »Grüß Gott, Herr Doktor, was machen die Gespenster  ?« Während wir auf der Alm unterwegs waren, er seine Bilder malte, saß ich zwanzig Meter abseits und las im Roman »Miracle de la Rose« von Jean Genet. Manchmal mußte ich ihm, da ich mit einem Leuchtstift bestimmte Sätze kennzeichnete, eine Stelle vorlesen, aber wenn blasphemische Bilder auftauchten, runzelte er die Stirn, und ich hörte zu lesen auf. »Ich mag auch Ihre Gotteslästerungen nicht«, sagte er, »ich lese einfach Ihre Bücher nicht, aber wir können ja trotzdem Freunde bleiben.« (Einmal, als ich in Wien in der Alten Schmiede aus meiner Heimkehr des verlorenen Sohnes vorlas, tauchte er, der ebenfalls für ein paar Tage nach Wien gereist war, um durch die Museen zu gehen, bei meiner Lesung auf und verschwand danach wieder, ohne sich von mir zu verabschieden. Ein paar Tage später rief ich ihn an und fragte ihn, warum er denn nach der Lesung so schnell verschwunden sei. »Es war entsetzlich  !« antwortete er.)

Während er auf Stirn, Mund und Brust ein Kreuzzeichen machte, erzählte er mir, daß der Leichnam eines abgestürzten Sommerfrischlers in der Nacht mit einer Zeltplane abgedeckt vor der Osnabrückerhütte gelegen habe, »denn die Hüttenwirtin erträgt keine Toten in ihrem Haus«, sagte er, »sie erlaubte nicht, daß der Tote in einem Zimmer aufgebahrt wurde«. Einmal habe er gesehen, wie ein junger Ochse auf einer glitschigen Steinplatte ausrutschte, über einen Berghang hinunterkollerte und sich die Beine brach. Lange habe er auf die schmerzhaft nach außen gedrückten Augen und auf den entsetzten Blick des Ochsen geschaut. Blut habe aus dessen Maul geschäumt, und auf seinem braunweißen Fell habe er grüne Grasflecken gesehen. Er habe sofort Hilfe geholt, aber das schwer verletzte Tier mußte an Ort und Stelle geschlagen, notgeschlachtet werden. Einmal schauten wir neugierig in jedes vor der Almhütte parkende Auto hinein, um zu sehen, ob das erschossene Murmeltier, von dem auf der Hütte die Rede war, wohl noch, mit einem grünen Ast im Maul, auf einem Rücksitz lag. Einen ganzen Sommer lang trieb ein toter Stier im Stausee, ehe der Kadaver mit einem Fischernetz, an das zwei Ochsen gespannt waren, aus dem Wasser gezogen wurde. Er erzählte mir, daß er eine Bonbonniere, die er einer Schülerin schenken wollte, was er sich aber aus Scham nicht getraute, in eine Mülltonne geworfen habe, nachdem sie bereits drei Jahre lang in seinem Keller herumgelegen hatte. Ein paar Tage später habe er es bereut, die Bonbonniere weggeworfen zu haben, und habe sie tatsächlich noch völlig unversehrt in der Mülltonne gefunden. »Ich habe sie aus der Mülltonne genommen«, sagte er, »und bewahre sie jetzt endgültig auf, nie mehr werde ich diese Bonbonniere wegwerfen  !«

Während wir mit seinen Malerutensilien den Stausee entlanggingen – von den unzähligen Ölflecken hatte sich auf seiner Malerhose eine eigene Kunstlandschaft gebildet –, kamen wir an einer kleinen Kapelle vorbei, in der auf mehreren Bronzetafeln die Namen der vierundzwanzig­ beim Bau der Kölnbreinsperre tödlich verunglückten Arbeiter aufgelistet standen, von denen einige in der zweihundert Meter hohen Mauer einbetoniert und mumifiziert sind, denn ihre Leichen konnten beim Unglück nicht mehr geborgen werden. Beim Weitergehen erzählte er mir, daß im Bergdorf Mooswald, in dem auch die aus der Ukraine verschleppte Russin Njetotschka Wassiljewna wohnte, eine Sommerfrischlerin, die gerade eine schwere Operation hinter sich hatte und sich in den Bergen erholen wollte, auf eine abgesperrte, mit einem Verbotsschild versehene Wiese ging und von einem Widder niedergestoßen und getötet wurde. Während der immer wieder anlaufende, heftig schnaufende Widder mit seinen Hörnern in ihren Körper stach, umringte eine Schafsherde die Sterbende und ließ die herbeieilenden Helfer erst zu ihr, als sie schon tot war. Als es einmal in Strömen regnete, konnten wir im letzten Moment mit seinen fertigen Aquarellen in eine halbzerfallene Sennerhütte flüchten. Wir schauten auf die vermoderten Matratzen, auf einen zerfledderten Puppenwagen, auf zusammengebrochene Stühle, leere Fischkonserven, Papierfetzen von deutschen Tageszeitungen und Illustrierten. Er drängte mit seinem Stock alles auf einen Haufen zusammen und betrachtete lange den Abfall. »Es interessiert mich ungemein, was die Leute in welchem Zustand wegwerfen  !« sagte er. Auf einem zusammengeknüllten Papierfetzen das Brustbild eines Dichters erblickend, sagte ich zu ihm, daß dieser Dichter eigentlich wie ein Mörder aussehe. »Dasselbe habe ich mir auch gedacht«, sagte er, »aber ich wollte es aus Rücksicht zu Ihnen zuerst nicht sagen.« Etwas später, als wir, lange stumm nebeneinanderstehend, in den dampfenden Schnürlregen hinaus auf den trüb gewordenen Stausee schauten, sagte er: »Wenn ich Sie in meiner Jugend getroffen hätte, wäre ich ein ganz anderer Mensch geworden  !« Über eine Stunde an der Schwelle der Sennerhütte sitzend und den Strichregen abwartend, erzählte er mir noch die Geschichte einer Professorenkollegin, die vor einigen Jahren in der Türkei Urlaub machte und die meiste Zeit in einem Zelt geschlafen haben soll. Als sie nach Hause kam, beobachtete sie mit größter Unruhe eine von Tag zu Tag größer werdende Geschwulst auf der Brust, die schließlich aufgeschnitten werden mußte. Aus der Wunde liefen lauter neugeborene Spinnen. Die Frau kam ins Irrenhaus.

Nachdem ich bereits mehrere Romane veröffentlicht, inzwischen aber die Sprache verloren hatte, kehrte ich auf den elterlichen Bauernhof, wo ich von meinem fünfundsiebzigjährigen Vater mit offenen Armen empfangen wurde, zurück, um Material für einen neuen Roman, für die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu sammeln. Als ich mit dem Kunstmaler Georg Rudesch wieder einmal durch die Wälder meines Heimattals streifte, schließlich vollkommen entkräftet vor dem Hause meines Kinderarztes auf einem Hügel lag und in einem Traurigkeitsanfall zu ihm sagte, daß ich den Dorfleuten, die mich wegen meiner Bücher hassen, doch den Wunsch erfüllen werde, daß es eben noch radikaler wäre, wenn ich es nämlich doch tue, ich muß ihnen, sagte ich, zum Trotz den Gefallen tun, da antwortete er: »Sie sind der einzige, der sich um meine Bilder kümmert. Sie dürfen sich allein schon deswegen nicht umbringen, weil ich ohne Ihre Hilfe mein Lebtag ein völlig unbekannter Maler bleibe  !« Jahre später, als ich an einer Geschichte über Jean Genet arbeitete, ihn aus Paris anrief und ihm mitteilte, daß ich das kleine Hotel gefunden hätte, in dem Genet gestorben sei, ich in seinem Sterbezimmer übernachten möchte, rief er mehrmals in die Telefonmuschel hinein: »Sie versprechen mir, daß Sie sich nicht im Totenbett von Genet umbringen werden  !« Aus Marokko zurückkehrend und ihm von meiner Suche nach dem Grab Jean Genets in Larache erzählend, sagte er: »Was  ! Sie habe nicht einmal Blumen zum Grab von Genet gebracht  ?«

Als er dann nach einem schweren Herzanfall ins Krankenhaus in Spittal an der Drau eingeliefert werden mußte, waren Christina und ich gerade in Paris, ich hatte im Österreichischen Kulturinstitut eine Lesung, wir schauten uns in der Orangerie wieder die Bilder von Chaim Soutine­ an und schickten ihm täglich eine Kunstpostkarte mit den roten Gladiolen, den Ministranten, den Zuckerbäckern, der Erstkommunikantin, den Ochsenkadavern, den Liftboys und den Kellnern. Christina und ich reisten sofort zurück nach Kärnten, saßen Tag für Tag in der Intensivstation an seinem Sterbebett, bis uns an einem Abend von einem Arzt des Krankenhauses die Nachricht übermittelt wurde, daß er verstorben sei. Mit seinem Anzug, Unterwäsche und seinen Schuhen in einem Plastiksack, die wir am Vortag aus seiner Wohnung geholt hatten, saßen wir schließlich im Omnibus von Kamering nach Spittal und gingen mit seiner letzten Bekleidung zur Vorbereitung der Bestattung. Ungefähr ein Jahr vor seinem Tod war mir aufgefallen, daß er sich zunehmend mit der Höhlenmalerei beschäftigte. Auch ging er seltener­ außer Haus und suchte seine Malmotive weniger in der Natur auf als früher. Er saß alleine in seiner kleinen Wohnung und malte auf Packpapier mit schwarzer Kohle Phantasielandschaften, die er mit einem Haarspray fixierte. Neben den Hunderten vor allem von Boeckl, Kokoschka, Cézanne, Corinth und Soutine inspirierten Aquarellen und Ölbildern, den Tausenden Kunstpostkarten und den über hundert Karl-May-Büchern, fielen mir auch die Totenmasken seines Vaters und die künstlerisch von Cornelius Kolig gestaltete Totenmaske seiner Tante zu.

 

Die Lebensgeschichte des Malers Chaim Sou­tine, der als Zwanzigjähriger aus Litauen nach Paris zog und die schönsten roten Gladiolen, die schönsten jungen Zuckerbäcker und die schönsten Ministranten der Kunstgeschichte malte

Chaim Soutine wurde 1892 oder 1893 als zehntes von elf Kindern eines armen jüdischen Flickschneiders in Smilowitsch, einem litauischen Dorf in der Nähe von Minsk, geboren. Smilowitsch, in dem 4000 Einwohner, Tataren, Polen, russische Bauern, vor allem aber Juden lebten, bestand aus einer tristen Ansammlung baufälliger Häuser. Von der Straße aus konnte man durch ein Fenster seines Elternhauses Chaims Vater, Zalman Soutine, einen ungebildeten und gewalttätigen Mann, Tag und Nacht in einer buddhaähnlichen Sitzhaltung bei seinen Flickarbeiten sehen. Das Haus stand an einem großen Platz, auf dem der Gemüsemarkt abgehalten wurde. Dahinter floß die Vilnia, die den Garten der Familie oft monatelang überschwemmte. Der kleine Chaim flanierte gerne über den Markt, mischte sich unter die Bauern, streifte durch die Felder und konnte sich stundenlang alleine am Flußufer aufhalten. Seine Muttersprache ist Jiddisch, nur ein wenig konnte er Russisch sprechen. Chaims Mutter soll früh gealtert, immer voller Sorgen, vollkommen schweigsam und mit ihrem Haushalt und den elf Kindern ständig überfordert gewesen sein. Besonders freitags, wenn sie das Brot für die ganze Woche backen mußte, hagelte es aus ihren mehligen Händen Schläge.

Im Alter von 13 Jahren machte Chaim, das Kind orthodoxer Juden, zum Zorn seiner Eltern und Geschwister auf allen möglichen Papierfetzen, die ihm zwischen die Finger kamen, Zeichnungen und Skizzen und bemalte die Wände des Hauses mit Holzkohle. Für diese Schandtat wurde das Kind von seinen älteren, ebenfalls verrohten Brüdern verprügelt mit den Worten: »Juden dürfen nicht malen  !«, denn Zeichnen und Malen waren in der orthodoxen Gemeinde ketzerisch und galten als schwere Sünde und Blasphemie. Wenn die betenden Gläubigen im Tempel des Schtetls aufgefordert wurden, in Ehrfurcht vor Gott den Kopf zu senken, hob der rebellische Chaim, der sich nicht unterordnen wollte, stolz sein Haupt. Vor seinen gewalttätigen Brüdern versteckte er sich in den Wäldern und ließ sich erst wieder blicken, wenn ihn der Hunger nach Hause trieb. Sobald er wieder in der Küche auftauchte, um sich mit Proviant zu versorgen – Milch und frisches, warmes Schwarzbrot –, wurde er wieder von seinen Geschwistern verhauen. Seither hatte er eine tiefe Narbe auf der Brust. Um Zeichenkreide kaufen zu können, veräußerte er aus dem elterlichen Haushalt ein Küchenmesser und wurde dafür zur Strafe in den Keller, bei anderer Gelegenheit in den Hühnerstall gesperrt. Als Chaim 16 Jahre alt war, bat er einen frommen Juden, daß er für ein Porträt Modell sitzen möge. Am nächsten Tag wurde er von den Söhnen und Freunden des Mannes so schwer mißhandelt, daß er sich alleine nicht mehr erheben konnte. Die Täter glaubten sogar, daß er tot sei, und ließen ihn einfach liegen, bis die Polizei kam. Erst nach einer Woche konnte er wieder auf eigenen Beinen stehen und gehen. Soutines Mutter verklagte die Übeltäter, und mit dem Bußgeld von 25 Rubeln verließ der gequälte und gedemütigte Chaim gemeinsam mit einem Freund sein Heimatdorf Smilowitsch und fuhr nach Minsk. Das Wertesystem in seinem Schtetl hatte keinen Platz für Bilder, Soutines Malerei wurde von der orthodoxen Gemeinde als Bedrohung empfunden.

Nach einem einjährigen Aufenthalt in Minsk ging er nach Vilnius und bewarb sich um ein dreijähriges Studium an der Kunsthochschule, wo er bei der Aufnahmeprüfung einen Kegel, einen Kubus und einen Krug zeichnen sollte, aber bei diesem entscheidenden Test so nervös war, daß er einen Fehler in der Perspektive machte und abgewiesen wurde. Der junge Chaim warf sich Professor Rebakoff regelrecht zu Füßen, kniete weinend vor ihm nieder und flehte ihn an, die Prüfung unter Ausschluß der Öffentlichkeit wiederholen zu dürfen. Der zu Tränen gerührte Kunstprofessor erlaubte ihm eine zweite Aufnahmeprüfung. Die Themen seiner Skizzen waren damals schon jüdische Begräbnisse, Einsamkeit, Armut, Elend, Tod und Verzweiflung. Theatralisch inszenierte der Jugendliche die Sitzungen mit seinen Modellen. Sein Freund Michel Kikoine mußte eine Aufbahrung simulieren und sich auf den Boden legen. Chaim breitete ein weißes Laken über den Mitschüler der Akademie, umstellte den abgedeckten Körper mit brennenden Kerzen und begann zu zeichnen. Die Schüler der Kunstschule in Vilnius trugen eine Studentenuniform mit goldenen Knöpfen und Mütze. Um an seine Malobjekte heranzukommen, gab sich Soutine bei den Dorfbewohnern, die von der Uniform beeindruckt waren, als Amtsperson aus. »Der ›pristav‹, der Polizeikommissar, schickt mich, um Ihr Porträt anzufertigen«, sagte er zu den eingeschüchterten Bauersleuten, die sich bereitwillig porträtieren ließen. Nach drei Jahren beendete Chaim Soutine das Studium an der Kunsthochschule in Vilnius. Aus ihm war, wie es hieß, einer der besten Studenten geworden, aber er wollte weg, er wollte Rußland und das ihn bedrückende Schtetl Smilowitsch verlassen, er wollte nach Paris, in die damalige europäische Hauptstadt der Künste. Ein Bekannter aus Vilnius, ein jüdischer Arzt, finanzierte seine Reise. Noch im Jahr seines Studienabschlusses, im Juli 1913, kam er auf der Gare du Nord in Paris an. Als Gepäck hatte der zwanzigjährige Immigrant einen Rucksack, eingerollt unter dem Arm ein paar in Rußland gemalte Bilder, ein paar Rubel und die Anschrift von »La Ruche«.

»La Ruche«, was soviel heißt wie »Der Bienenkorb«, war ein vom akademischen Bildhauer Alfred Boucher im Jahre 1902 errichtetes Gemeinschaftshaus für mittel- und wohnungslose Künstler, eine Art Akademie, in der den Porträt-Malern kostenlos Modelle zur Verfügung gestellt wurden. La Ruche war ein rotundenartiger Gebäudekomplex, der auf jeder Etage in wabenförmige Ateliers unterteilt war. Die Räume waren nicht durch Türen, sondern durch Vorhänge abgeteilt, und über den Türstöcken, auf Hängeböden, befanden sich die Betten. Es gab in La Ruche keinen Strom, kein Gas, jeder hatte eine Kerze in der Hand. Diese »Villa Medici des Elends«, wie sie auch genannt wurde, diese zur Zeit der Ankunft Soutines bereits verlotterten und von Ungeziefer verseuchten Quartiere konnten zweihundert Künstler beherbergen. Wenn die »Bienen«, so nannte der Gönner Alfred Boucher seine Pensionäre, ihre Mieten nicht zahlen konnten, ignorierte er es und bedrängte niemanden. In den Ateliers, die jedermann offenstanden, tauchten manche Ankömmlinge mit ihren Farbtöpfen und Pinseln nachts auf, und der großzügige Boucher begrüßte jeden Neuankömmling, ohne zu fragen, warum und woher er kam, was er denn eigentlich hier wolle. Wer in La Ruche wohnte und etwas mehr verdient hatte, war verpflichtet, den mittellosen Malern die Leinwände zu kaufen. Anfangs ging Soutine, der die Passage de Dantzig, in der sich La Ruche befand, nach seiner Ankunft in Paris nur mühsam finden konnte und sich zuvor in den Gängen der Métro verlaufen und verirrt, sich in der Stadt auf jiddisch zum Quartier Montparnasse durchgefragt hatte, in den Ateliers der anderen Künstler aus und ein, er aß bei den einen und schlief bei den anderen. Pinchas Krémègne, mit dem er in Vilnius die Kunsthochschule besucht, den es noch vor Soutine nach Paris ins La Ruche verschlagen hatte, bei dem er zuallererst anklopfte und um Gastfreundschaft bat und mit dem er Jiddisch sprechen konnte, beklagte sich später über Soutine, der sich so lange bei Tisch bedienen konnte, bis für andere nichts mehr auf den Tellern blieb, der die karge Mahlzeit einer Schüssel Kartoffel alleine verschlingen konnte und der sich dann auch nicht schämte, mit den Worten: »Das ist mein Bandwurm  !« noch um ein Stück Brot zu bitten. Von seinen Malerkollegen wurde Soutine nie mit dem Vornamen, immer mit dem Familiennamen angesprochen. Soutine verdiente seinen erbärmlichen Lebensunterhalt zeitweise als Gepäckträger an der Gare de Montparnasse, arbeitete als Dekorateur auf der damaligen Automobil-Ausstellung im Grand Palais, meldete sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges zur Arbeitsbrigade und hob Schützengräben aus, wurde aber wegen seines Magenleidens bald entlassen. Stundenlang soll er manchmal im Quartier Montparnasse, wo sich auch die Künstlerklause La Ruche befand, an den Theken der Cafés »Le Dôme« und »La Rotonde« herumgelungert haben, bis ihm jemand einen Café Crème oder ein Sandwich spendierte. Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der Soutine in den Cafés von Montpar­nasse begegnete, beschrieb seinen Eindruck so: »In der allerdunkelsten Ecke saßen regelmäßig Krémègne und Soutine. Soutine blickte verschreckt und schläfrig drein – als hätte man ihn aus seinen Träumen gerissen und ihm keine Zeit zum Waschen und Rasieren gelassen. Er hatte die Augen eines gejagten Wildes – vielleicht vor Hunger.«

Als sich Soutine nach langwierigen und schmerzhaften Ohrenleiden endlich entschlossen hatte, zu einem Ohrenspezialisten zu gehen, entdeckte der Ohrenarzt in seinem Gehörgang nicht einen eitrigen Abszeß, sondern ein Wanzennest. Der magenkranke Chaim Soutine war abergläubisch und hatte große Angst vor einer Nahrungsmittelvergiftung. Als er einmal ein Stück Schinken, von dem er gegessen hatte, verfault im Abfall wiederfand, war er überzeugt, daß auch er verfaulen und sterben werde, weil er zuvor von diesem Schinken gegessen hatte. Obwohl er dichtes, volles Haar, aber ständig Angst davor hatte, es zu verlieren, ließ er sich von einer Nonne regelmäßig seine Kopfhaut massieren und mit einem Spezialtonikum behandeln. Ebenfalls gegen Haarausfall beschmierte er mit einem frisch aufgeschlagenen rohen Ei seine Haare, setzte sich, ohne Eiweiß und Dotter wieder herauszuwaschen, einen Hut auf und spazierte durch Paris. Der Einzelgänger und Außenseiter Soutine wurde von vielen als melancholischer, oft verbitterter und zurückhaltender Mensch beschrieben, aber er selbst sagte einmal über sich: »Ich bin nicht unglücklich  ! Ich war immer glücklich.«

Marc Chagall, der zwei Jahre vor Soutine ins La Ruche gekommen war, erinnerte sich, daß man durch die Passage de Dantzig, wo die Ateliers von La Ruche mit den eifrigen Malern lagen, wie durch eine Armeleutesiedlung gehen konnte, ohne zu unterscheiden, wer wirklich künstlerisches Talent hatte oder wer Möchtegernkünstler und Farbenschmierer war. Während in den russischen Ateliers ein gekränktes Modell leise schluchzte, ertönten bei den weinseligen Italienern Lieder und Gitarrenklänge, bei den Juden soll es häufig Diskussionen gegeben haben, während er, Chagall, ganze Nächte lang im Schein einer Petroleumlampe in seinem Atelier durchwachte, umgeben von Bilderrahmen, Eierschalen und leeren, stinkenden Suppendosen, die auf dem Boden lagen, dazwischen die Reste eines halbierten Herings, der Kopf des Fisches war für den einen, der Schwanz für den nächsten Tag als Mahlzeit bestimmt. Während Chagall, der von den Mitbewohnern von La Ruche »le poète« genannt wurde, sich beim nächtlichen Gebrüll des Viehs aus den benachbarten Schlachthöfen an seinen Großvater, der Fleischhauer im russischen Dorf Peskowatik war, erinnerte und seine allegorischen Traumbilder aus dem Gedächtnis auf die Leinwand zauberte, mußte Soutine seine Malobjekte direkt vor sich haben. In ungewaschenem und unrasiertem Zustand, mit feucht näselnder Aussprache, wie es hieß, den Hut über den Kopf gezogen, damit man ihn nicht erkennen und, was häufig vorkam, nicht ausspotten konnte, verließ Soutine oft schon um drei Uhr morgens sein Quartier, ging mit seiner Malkiste und mit einer kaputten Staffelei in die Außenbezirke von Paris und suchte seine Motive in der Natur, seine Modelle in der einfachen Bevölkerung in den kleinen Dörfern, lief zehn, zwanzig Kilometer mit seinen Malutensilien, um ein Objekt zu finden, hauste in einem Schweinestall, kehrte ohne Essen wieder zurück und wurde nicht selten schlafend zwischen seinen ausgerollten und bemalten Leinwänden angetroffen. Als Marc Chagall 1914, ein Jahr nach Soutines Ankunft, La Ruche verließ, dabei Gemälde zurückließ, die er niemals wiedersehen sollte, da einige zum Abdecken der Hühnerställe verwendet wurden, wäre Soutine gern in Chagalls komfortableres Atelier gezogen, in das durch eine Dachbodenluke Tageslicht einfiel – »Mein Fenster öffnete sich zum Himmel, das war poetisch«, so Chagall –, aber Chagall lehnte den Wunsch seines Landsmannes mit der Begründung ab, daß Soutine wie ein Landstreicher aussehe.

Soutine trug, so beschrieben ihn einige Zeitgenossen, farbverschmutzte Kleider, durchlöcherte Schuhe, hatte eine flache Nase, dicke Lippen, schwarze, ins rötliche Gesicht hängende Haarsträhnen, einen scheuen, mißtrauischen Blick, picklige Haut, ein kindliches Lachen. Mit nach innen gebogenen Armen und Beinen und mit gebeugtem Rücken will man ihn, ob bei Sonnenschein oder strömendem Regen, durch die Straßen von Paris haben laufen sehen. Soutine hatte außerordentlich schöne Hände, die auch Amedeo Modigliani auffielen, mit dem Soutine in La Ruche befreundet war und der auch seine Bilder bewunderte. »Der große Maler unserer Zeit, das ist Chaim Soutine«, sagte Modigliani, »neben ihm existiere ich gar nicht.« Die Frau des Kunsthändlers Zborowski hatte eine Abneigung gegen Soutine, sie wollte nicht, daß er in ihr Haus kam, aber Modigliani, der dort gerne gesehen war, malte ein Porträt von Soutine auf eine Tür ihrer Wohnung und sagte zu Frau Zborowski: »Du wirst Soutine doch nicht los  !« Wenn Soutine abends von Modigliani – Modigliani war Alkoholiker und drogenabhängig – betrunken nach Hause kam, lief er um das runde Gebäude von La Ruche, suchte den Eingang zu seiner Klause und rief: »Merde, merde, ich kann die Tür nicht finden  !« Modigliani, der sogenannte »Prinz von Montparnasse«, und Soutine, das verkörperte, nach Schmutz und Ölfarben riechende Elend, haben zeitweise mit denselben Modellen gearbeitet. Im Zimmer, in dem sich Modigliani und Soutine nächtelang unterhielten und Wein tranken, bauten sie einen Desinfektionsring aus Asche oder Lehm ums Bett, um sich die Wanzen vom Leib zu halten. Als Modigliani wegen einer Lungentuberkulose im Sterben lag, soll er zu seinem Kunsthändler Zborowski, einem polnischen Dichter und Maler, gesagt haben, daß er, Modigliani, nun wohl werde »gehen« müssen, ihm aber Soutine, ein Genie, zurücklasse und Zborowski sich um Soutine kümmern solle.

Im Jänner 1920 erfährt Soutine während eines Malaufenthaltes in Cagnes-sur-Mer, an der Côte d’Azur, die Nachricht vom Tod Modiglianis und vom Selbstmord der schwangeren Lebenspartnerin Jeanne Hébuterne. Soutines Freund und Biograph Émile Szittya berichtete, daß er Chaim nach dem Tod seines Freundes Amedeo Modigliani, der ihn tief erschüttert haben soll, häufig in trauriger Stimmung angetroffen, besonders wenn er ein Gemälde zuende gebracht habe. Grégoire Michonze, einem Landschaftsmaler, zeigte Soutine an der Côte d’Azur einen Baum und sagte: »Dies hier ist mein Baum. Ist er nicht wie eine Kathedrale  ? Ich habe ihn 18mal gemalt.« In diesem Sommer besuchten ihn Léopold Zborowski und dessen Frau Anna in Cagnes, begleitet von der vierzehnjährigen Paulette Jourdain, die seit einem Jahr im Hause des Ehepaars Zborowski angestellt war und die Modi­gliani Modell gestanden hatte. In Paulette Jourdain findet Soutine über mehrere Jahre eine hilfreiche Begleiterin und ein Modell. Paulette berichtete von endlos langen Sitzungen, die ihr die größte Geduld abverlangten, oftmals muß­te sie lange regungslos posieren. Paulette Jourdan stellte für den weltfremden und scheuen Maler den Kontakt zur Außenwelt her, besorgte mit ihm bei den Bauern Geflügel, das er malen wollte und nach den Farben des Federkleides auswählte. An einem Morgen stellte Soutine weit draußen am Land seine Staffelei auf, malte aber nichts, starrte lang, mit seinen Händen seinen Kopf haltend, vor sich hin. Als ein Mann, der am Vormittag vorbeispaziert war, am Nachmittag denselben Weg zurückging und sah, daß er immer noch nichts gemalt hatte, fragte er, was er denn eigentlich hier mache. Soutine antwortete: »Ich warte auf den Wind  !« Soutine malte auf nicht aufgezogenen, künstlerisch wertlosen Gemälden aus dem 17. Jahrhundert, die ihm als Malgrund dienten und die er für ein paar Sous auf Flohmärkten erstanden hatte. Soutine, der glatte Malunterlagen schätzte, sagte einmal: »Ich lasse meinen Pinsel gerne gleiten.« In der Hand hielt er immer mehrere Pinsel, die er, kaum hatte er sie für einen Strich verwendet, wegwarf. Farbtuben von bester Qualität soll er ausgesucht haben, er schrieb an Gott und die Welt, um an hochwertige Farben zu kommen, und seine Palette soll immer von mustergültiger Sauberkeit gewesen sein. Einmal, ein fertiges Gemälde betrachtend, soll er gesagt haben: »Es ist besser als die Bilder von Modigliani, besser als die Bilder von Chagall und Krémègne. Eines Tages werde ich meine Bilder zerstören, aber Chagall und Modigliani sind zu feige, um ihre eigenen Werke zu vernichten.« Und über Cé­zanne urteilte er: »Ein Maler, der mich nicht bewegt, das ist Cézanne. Das ist vorbei, über diese Phase bin ich hinaus, daran habe ich einmal geglaubt. Ich denke nicht, daß in fünfzig Jahren noch viel davon bleiben wird, das ist zu gekünstelt, gesucht, schwierig, zu sehr Angelegenheit des Verstandes.« Van Gogh soll er überhaupt gehaßt haben.

Soutine, der oft in den Louvre ging, um die Gemälde der Alten Meister zu betrachten, soll andächtig mit gesenktem Kopf und scheuem Blick an den Bildern von El Greco, Courbet, Tintoretto, Goya und vor allem an den Bildern Rembrandts entlanggeschlichen sein. In einer »Art respektvoller Furcht«, wie es hieß, soll er sich den Gemälden Rembrandts genähert haben. »Das ist so schön, daß ich davon noch verrückt werde  !« sagte er zu Chana Orloff, mit der er oft durch den Louvre ging. Soutine vergötterte Rembrandt, fuhr auch nach Amsterdam ins Rijksmuseum, um sich noch andere Bilder, auch Rembrandts geschlachteten Ochsen anschauen zu können. »Die Judenbraut« im Rijksmuseum war für Soutine ein Pilgerziel. »Rembrandt ist ein Gott  ! Nein, er ist Gott  !« sagte er einmal. Skeptisch gewordene Museumswärter, denen das seltsame Verhalten Soutines auffiel, folgten ihm und seiner Begleiterin im Louvre argwöhnisch von Saal zu Saal.

Zu seinem Kunsthändler Zborowski sagte er einmal: »Man behauptet, Gustave Courbet habe in einem einzigen weiblichen Akt die ganze Pariser Atmosphäre einfangen können. Ich hingegen kann Paris im Kadaver eines Ochsen zeigen.« Soutine bat Zborowski, ihn in die Schlachthäuser zu begleiten, denn er wollte einen gehäuteten Ochsen kaufen. Man brachte den Ochsen ins Atelier, aber es dauerte lange, bis Soutine zu malen anfing, so daß der Ochse inzwischen zu verwesen und fürchterlich zu stinken begann. Um die Fleischfarben aufzufrischen, überschüttete Soutine den Ochsen mit frischem Blut, das er eimerweise bei einem Metzger gekauft hatte, und malte weiter. Und Paulette Jourdan verscheuchte dabei die Fliegen. Der seit Tagen anhaltende Verwesungsgeruch des Ochsen beunruhigte die Nachbarn. Die Beamten des Gesundheitsamtes konnte Soutine davon überzeugen, daß seine Malkunst wichtiger sei als die Hygiene. Die Beamten bespritzten das Fleisch mit Ammoniak, damit es sich nicht weiter zersetzte und der Verwesungsgeruch gemildert wurde. Von diesem Tag an hantierte Soutine in seinem Atelier – assistiert von Paulette Jourdain – immer wieder mit Ammoniakspritzen, wenn er über eine längere Schaffenszeit mit ihren vielen Pausen hinweg tote Hasen, Enten und Hähne malte. Die wieder und wieder behandelten Enten sollen schon bockig und starr gewesen sein, ohne daß sich aber die Farbe ihrer Federn veränderte; und die von Paulette auf den Abfall geworfenen Tiere vergifteten die fleischfressenden Hunde. Nach einer anderen Anekdote soll beim Wiederauffrischen eines Ochsen – Soutine malte zehn Ochsenkadaver – das Blut von seinem Atelier durch den Fußboden in die darunterliegende Wohnung gesickert sein. Die Concierge habe an einen Mord geglaubt und die Polizei gerufen, die schließlich den Kadaver abschleppen ließ.

Mit seinen farbverschmierten Händen sich über die eigene Kehle streichend, sagte Soutine zu seinem Freund Émile Szittya: »Ich sah einmal, wie ein Dorfschlachter einer Gans die Kehle durchschnitt und das Blut herauslaufen ließ. Ich wollte schreien, aber sein fröhlicher Blick schnürte mir die Kehle zu. Diesen Schrei fühle ich immer noch in mir. Als ich als Kind ein Selbstporträt zeichnete, habe ich versucht, mich von diesem Schrei zu befreien. Bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen, mich davon zu befreien.« Die jüdische Speisevorschrift, der Begriff des »Koscheren«, schreibt vor, die Tiere mit glatter Klinge, schnell, sauber und möglichst schmerzfrei zu töten, das aus dem Körper fließende Blut sofort zu entfernen, das Fleisch schnell zu verarbeiten. Soutine verletzte die Dogmen des Schtetl, seiner jüdischen Herkunft, hängte die blutigen Tiere, Hähne, Kaninchen, Fasane an Fleischerhaken und studierte sie genau, bevor er den Pinsel in die Hand nahm. Zborowski erzählte: »Ich muß sagen, Fleisch malt er gut, besonders, wenn er hungrig ist. Haben Sie jemals seinen gierigen Rachen bemerkt  ? Nun, er kauft ein Stück rohes Fleisch und fastet zwei Tage bei seinem Anblick, ehe er anfängt zu malen. Sehen Sie sich das Rot an: Hat er nicht seinen ganzen kannibalischen Appetit in dieses Rot gelegt  ?« Mit Paulette Jourdain ging Soutine von Fleischhauer zu Fleischhauer und suchte einen ganz bestimmten Kalbskopf. »Verstehen Sie«, sagte er zum Metzger, »ich möchte einen ganz besonderen Kalbskopf.« Durch die Geflügelläden gehend, suchte er ein ganz bestimmtes Huhn, es mußte einen langen Hals und eine bläuliche Haut haben. Ein Geflügelhändler bot dem verwahrlosten und immerzu hungrigen Soutine einmal aus Mitleid ein besonders fettes Huhn an, aber Soutine bestand darauf, ein ausgemergeltes Huhn zu kaufen. Auf der Straße hob er entzückt das Huhn in die Höhe und sagte zu seiner Begleiterin: »Ich werde es gleich am Schnabel aufhängen, und in ein paar Tagen ist es dann soweit, Paulette.« Um die Fliegen abzuhalten, hängten im Sommer die Metzger auf der Straße Tücher über ihre geschlachteten Tiere. Soutine nahm im Vorbeigehen die mit Blut befleckten Tücher mit und benützte sie als Hintergrund für seine Bilder. Wenn Soutine einen Seelachs oder eine Forelle malen wollte, ging er morgens um sieben Uhr zu einem bestimmten Zug, der täglich frischen Seefisch anbrachte. Entsprachen die Fische nicht seinen Erwartungen – Soutine schaute sich im Louvre oft die einzigartige »Forelle« von Gustave Courbet an –, erschien er am nächsten Morgen mit Paulette wieder am Bahnhof beim Ausladen der Meerestiere.

Zur russischen Malerin Marevna, der er in La Ruche begegnet war, sagte Soutine einmal: »Ich male lieber Landschaften als Porträts. Ein Modell ermüdet rasch und sieht dann stupide aus. Also muß man sich beeilen, ich rege mich auf, knirsche mit den Zähnen und fange manchmal zu brüllen an, ich mache die Leinwand kaputt und wälze mich am Boden. Wenn das Modell den Mund hält und sich nicht bewegt, dann geht’s, aber wenn sich etwas ändert, verliere ich die Linie von Nase und Mund – schon geht es wieder nicht mehr. Ich sehe Flammen vor mir, und es brennt. Also brülle ich und werfe alles zu Boden. Das ist dumm, nicht wahr. Ich habe eine Höllenangst. Und wenn das Bild fertig ist, bin ich erschöpft wie eine Frau, die eben ihr Kind bekommen hat. Ich frage mich dann, was mit mir los ist, warum ich so außer mir bin.«

Chaim Soutine, der die schönsten roten Gladiolen, die schönsten jungen Zuckerbäcker und die schönsten Ministranten der Kunstgeschichte mit dem später so bezeichneten »Soutine-Rot« malte, ließ sich tagelang in einem Auto durch die Gegend kutschieren, bis er ein passendes Modell gefunden hatte, einmal eine Erstkommunikantin in ihrer vollen weißen Pracht mit einem Kranz gelber Rosen auf dem Haupt, Bäuerinnen bei der Arbeit, Wäscherinnen und Zimmermädchen, Liftboys, Köche und Kellner, Dorfnarren und Idioten, betende Männer und Fürsorgezöglinge, Kinder mit verschmierten Mündern. Einmal wollte er eine Frau porträtieren, die er beim Wäschewaschen entdeckte, als sie gerade vor dem Waschtrog kniete. Soutine stürzte auf sie zu: »Madame, ich habe keinerlei Hintergedanken, verstehen Sie mich, ich bin Maler, ich habe, durch Sie angeregt, ein Bild angefangen, und ich muß es zuende bringen.« Ihr eifersüchtiger Mann, ein Bahnwärter, wollte es verhindern. Soutine drohte dem Mann, daß er ihn gerichtlich belangen werde. Der eingeschüchterte Mann lenkte ein, die Frau kam, und es entstand das legendäre Bild »Liegende Frau«.

Soutine, der sich selber nur dreimal porträtiert hat, verbrachte auch viel Zeit, ohne zu arbeiten, malte stoßweise, besuchte Museen, las viel und wartete, bis ihm ein Objekt über den Weg lief. Einmal, es war gerade in der Zeit seiner Schaffenspause, ging eine Frau an ihm vorüber, die ein Kind auf ihren Armen trug. Er überwand seine Schüchternheit, folgte ihr und bot ihr Geld an, soviel sie haben wollte, um sie malen zu können. Ein anderes Mal, als er im Freien eine Frau porträtierte, soll er während eines aufkommenden Gewitters weitergemalt, der Frau verboten haben, sich zu rühren, und hinterher soll er völlig überrascht gewesen sein, als ihm auffiel, daß er und sein Modell bis auf die Haut durchnäßt waren. Einmal wollte Paulette Jordain eines der sechs Porträts sehen, die Soutine von ihr gemalt hatte und die er immer versteckte. Soutine drehte die Staffelei um, die sechzehnjährige Paulette erschrak, denn er hatte das Mädchen als alte Frau gemalt. Ein Modell Soutines aus den frühen Pariser Jahren beschrieb den Maler so: »Er wurde krebsrot und riß die Augen weit auf, mit seinen schönen Fingern kraulte er sich den Hals und streichelte sein Gesicht. Mit zusammengebissenen Zähnen stammelte er unverständliche Worte und begann zu malen.« Einmal verrenkte er sich bei seinem wilden, ekstatischen Malen einen Daumen und konnte sich hinterher nicht erklären, wie es passiert sein konnte. Manchmal wurde er auch ohnmächtig neben einem fertigen Bild gefunden. Wenn er eine Sitzung mit einem Modell beendet hatte, brauchte er jedesmal mehrere Stunden, um seine Sprache wiederzufinden. Er konnte es nicht ertragen, wenn ihm jemand beim Malen zuschaute. Mlle. Garde, mit der Soutine vier Jahre lang zusammenlebte und die ihn häufig auf seinen Malausflügen in die ländliche Umgebung von Paris begleitete, erzählte: »Er war so unsicher in bezug auf ein fertiges Bild, daß er so weit ging, mir – wenn wir gerade nicht zusammen waren – einen Brief zu schreiben oder mir zu sagen, daß ich mir die unfertigen Bilder in seinem Atelier nicht ansehen solle.« Soutine wollte auch über seine Werke nicht sprechen, gab vor, sich nur schlecht auf russisch oder französisch ausdrücken zu können, und sagte einmal, um keinen Kommentar über seine eigenen Bilder abgeben zu müssen: »Ich spreche keine Sprache.«

 

Die Geschichte vom reichgewordenen Chaim Soutine, der Hunderte seiner Bilder zer­hack­te und in Flammen aufgehen ließ, der auch gerne Boxer geworden wäre und der Glücksgefühle empfand, als er das sterbende Pferd einer  Gauklerfamilie  malen  durfte

Im Jahre 1919 schickte der Kunsthändler Léopold Zborowski den Maler Chaim Soutine nach Céret, in eine Stadt in den französischen Pyrenäen, nahe der spanischen Grenze. Céret galt lange als Malerstadt und wurde als »Mekka des Kubismus« bezeichnet, da unter anderen auch Picasso und Braque hier lebten und malten. In Céret, wo man ihn den »dreckigen Maler« nannte, wechselte Soutine drei Jahre lang seine Kleider nicht, auf denen er auch die Pinsel abputzte. Nach drei Jahren in Céret, einer Zeit, in der Soutine in großer Abgeschiedenheit und Einsamkeit lebte, kehrte er mit 200 neuen Gemälden nach Paris zurück. Der amerikanische Milliardär Albert Barnes, der auf der Suche nach Kunstwerken zeitgenössischer Künstler nach Paris gekommen war, den Kunsthändler Zborowski aufsuchte und in seinem Laden nach Bildern kramte, in der Hoffnung, junge Talente in der Nachfolge der großen Nach-Impressionisten zu finden, interessierte sich für nichts, was ihm Zborowski zeigte und anbot, bis er in einer Ecke eine zerrissene und schmutzige Leinwand von Chaim Soutine entdeckte, den Maler suchen ließ, den man ungewaschen und verwahrlost auf einer Parkbank in Montparnasse fand. Barnes ließ Soutine mit einem Auto abholen, schickte ihn zuallerst einmal ins Bad und zu einem Schneider und richtete ihm in der Folge ein behagliches Atelier ein. Barnes kaufte Soutine sofort über 75 Bilder ab, räumte sein Atelier mit einemmal leer und zahlte die für damalige Verhältnisse phantastische Summe von 60.000 Francs. Mit den Taschen voller Geld eilte Soutine aus seinem Atelier, ging ins Café, betrank sich, bestellte ein Taxi, ließ sich nach Südfrankreich chauffieren und tauchte erst nach einem Monat wieder auf. Soutine war in Paris von heute auf morgen zu einer gefeierten Persönlichkeit und einem begehrten Künstler geworden. Jahre später erzählte Soutine von seiner ersten Begegnung mit Albert Barnes, der als Arzt und Pharmazeut mit der Erfindung des Desinfektionsmittels »Argyrol« ein Vermögen gemacht hatte: »Barnes setzte sich, sah mich an und sagte: ›Ah  ! Das ist Soutine. Gut  !‹ Ein Grobian  ! Ich werde mir nie verzeihen, daß ich dumm genug war, um mich von diesem Menschen stören zu lassen.«

Als Chaim Soutine, dieser arme Junge aus dem osteuropäischen Ghetto, in Paris wegen seines Magenleidens einen Arzt aufsuchen mußte, hatte er außer einem Mantel, den er auch an heißen Sommertagen trug und unter dem er splitternackt war, kein einziges Kleidungsstück. Allein für diesen Arztbesuch mußte er einen andern, ebenfalls mittellosen Maler bitten, ihm dessen einziges Hemd zu borgen. In seiner Not soll er einmal eine langbeinige Unterhose zu einem Hemd zurechtgeschneidert haben. Im materiellen Wohlstand, den ihm der Kunstsammler Albert Barnes bescherte, kümmerte sich Soutine, der ein mißtrauischer Einzelgänger und Melancholiker blieb und auch hochmütig sein konnte, nicht mehr um seine Montparnasse-Freunde, wies sie vor seiner Tür ab, beklagte sich auch über Modigliani, seinem Freund und Förderer, der ihn – obwohl er wußte, daß Soutine magenkrank war – zum Trinken animiert, wodurch sich seine Krankheit noch verschlimmert habe. Als er zu finanziellem Wohlstand kam, durfte er sich nicht die Lebensmittel kaufen, die er sich früher nicht leisten konnte, denn jedesmal, wenn er seine strenge Diät, die aus gedünsteten Tomaten, Suppen und Milch bestand, nicht einhielt, wurde er wieder krank. Wenn in Montparnasse über den berühmt gewordenen Soutine Anekdoten aus seinem Leben erzählt wurden, war auch davon die Rede, daß er in den Cafés, in denen es oft nach Weihrauch roch, ausschließlich Milchkaffee oder Lindenblütentee trank, um seine Magenschmerzen zu lindern. Er war süchtig nach frischem Weihrauch. Der reich gewordene Soutine lernte Französisch, ließ sich von einem Schneider in der Rue François Premier blaue Maßanzüge anfertigen, trug mit Vorliebe rote Seidenkrawatten und Halstücher, kaufte sich Unmengen Hüte, spazierte zwischen dem »Le Dôme« und »La Rotonde« dandyhaft hin und her, besuchte Box- und Catchkämpfe und gab hohe Geldsummen für seine unzähligen Taxifahrten durch Paris aus. Über einen erfolglosen Maler sagte er einmal: »Ich verstehe nicht, warum er weitermalt. Ich hätte ohne Erfolg nicht weitergemalt. Ich wäre Boxer geworden  !« Einmal lud er einen befreundeten Maler aus seiner La Ruche-Zeit zum Abendessen in ein Restaurant ein, kam aber nicht zum vereinbarten Zeitpunkt. Ein anderes Mal bot er einem ehemaligen Mitschüler an der Kunstakademie in Vilnius an, ihm einen Kunsthändler zu empfehlen, aber auch daraus wurde nichts. Emmanuel Mané-Katz, ein Maler und Illustrator, den Soutine aus Vilnius kannte und den es ebenfalls ins La Ruche verschlagen hatte, erzählte, daß er einmal von Soutine, als der schon berühmt war, in seinem Atelier besucht wurde. Er war elegant gekleidet, trug ein prächtiges Seidenhemd und erzählte beglückt, daß er soeben ein Bild für 10.000 Francs verkaufte habe. Gleichzeitig aber seufzte er: »Warum sind sie in Montparnasse nur alle gegen mich  !«

Mit der Jüdin Deborah Melnik, einer Malerin und Sängerin, die er aus Vilnius kannte, ließ er sich kirchlich trauen. Als bald darauf eine Tochter namens Aimée geboren wurde, bestritt Soutine die Vaterschaft und verließ Mutter und Kind. Schließlich ließ er sich zwanzig Jahre lang nicht mehr an den vertrauten, alten Plätzen in Montparnasse, rund um die Elendsquartiere von La Ruche, blicken. Von seinem jüdischen Elternhaus und von seiner frühen Kindheit sprach er selten, und wenn überhaupt, dann mit großer Bitterkeit und Verachtung. Einmal erreichte ihn ein Brief seines kranken Vaters aus Rußland, der ihn um Geld bat und ihm empfahl, nach zwanzigjähriger Abwesenheit doch wieder einmal das Schtetl von Smilowitsch aufzusuchen. Soutine sagte zur Malerin Marevna: »Dieser Brief hat mich traurig gemacht, Marevna, wirklich  ! Obwohl er mein Vater ist, kommt er mir wie ein Fremder vor. Er liebte mich nie, glaub mir, und jetzt schreibt er um Hilfe  ! Ich werde ihm etwas Geld schicken und ihn tun lassen, was er will. Das wird meine Mutter nicht zum Leben erwecken. Aber ich möchte nicht hinfahren, nein, er war zu ungerecht zu mir.« Nie wieder kehrte Soutine ins Schtetl Smilowitsch zurück. Von seinem Geburtshaus hinterließ er kein einziges Gemälde, keine Porträts oder Bilder aus seinem Elternhaus, weder von Mutter, Vater noch von seinen Geschwistern, keine Kindheitserinnerungen, auch sind Bilder aus seiner Studienzeit an der Kunstakademie in Vilnius, die er als »aufgeblasene Stümpereien« bezeichnete, nicht erhalten geblieben. Seine Vergangenheit verdrängte Soutine, wo er nur konnte. Nur manchmal, als er La Ruche längst verlassen hatte und in ein anderes Atelier umgezogen war, hörte man bis auf die Straße seine Stimme mit dem Sprechgesang eines jiddischen Liedes. Seine russische Nationalität gab Soutine nicht auf.

Die 200 Gemälde, die Soutine nach einem dreijährigen Aufenthalt aus der Pyrenäenstadt Céret nach Paris mitbrachte und über die er selbstspöttisch sagte, daß er sie mit dem Finger gemalt habe, verachtete er und zerstörte sie bei jeder Gelegenheit; besonders nachdem er die Bilder Gustave Courbets im Louvre entdeckt hatte, tauschte er bei den Besitzern die Céret-Bilder gegen neue aus oder kaufte sie zu Phantasiepreisen zurück. Er setzte sogar Strohmänner ein, um an seine Céret-Gemälde heranzukommen und sie aus der Welt zu schaffen. So gelang es ihm, ungefähr 70 Bilder zu zerstören, die er in der ­Pyrenäenstadt gemalt hatte. Als ihn Zborowski einmal in Céret besuchte, sich aber unzufrieden über die Qualität der Bilder zeigte, machte Soutine im Hof des Hotels Garreta ein großes Feuer und verbrannte einen Stapel Bilder. Der Kunsthändler Michel Georges-Michel erzählte, daß er Soutine monatliche Vorschüsse bezahlt, aber zwei Jahre lang keine Bilder dafür gesehen habe, und erst, als er Soutine in seiner Wohnung aufsuchte, deren Fenster er, um die Bilder zu schonen, immer geschlossen hielt, habe er etwa 300 aufeinandergestapelte Bilder gefunden. Während Michel außer Haus ging, um Essen zu besorgen, zündete Soutine einen ganzen Stapel Bilder an. Nach lauten Schreiereien und einem wilden Handgemenge konnte Michel noch einige Bilder retten. Sagte jemand ein kritisches Wort zu seinen Gemälden oder verglich jemand Gemälde von ihm mit den Bildern eines anderen großen Malers, bezweifelte der Beschauer also Soutines Einzigartigkeit, zerstörte er die Bilder. Er legte die Bilder auf den Boden, betrachtete sie lange, nahm ein Küchenmesser und stach wild darauf ein. Einmal komplimentierte er seine Freundin Mlle. Garde in ein Café, ging dann zu einem Händler, da er erfahren hatte, daß der ein Gemälde aus seiner Céret-Zeit erworben hatte, gab ihm ein neues Bild und zerstörte das alte. Als sich einmal ein wohl mißtrauisch gewordener Händler weigerte, ihm das Porträt eines kleinen Mädchens zurückzugeben, fügte sich Soutine widerwillig, sagte aber flehentlich: »Bitte, sehen Sie nicht so genau auf ihre Füße. Sie ist sehr arm, und ihre Schuhe müssen geflickt werden  !« Manchmal bestellte er seine Modelle zu zehn, zwanzig Sitzungen und verwarf dann die Studien. In Verzweiflungsanfällen warf er sich aufs Bett und jammerte: »Ich sollte lieber Schuster als Maler sein  !« Damit niemand Zugriff hatte, sperrte er die fertigen Bilder weg. Den Schlüssel trug er immer bei sich. Fragte jemand nach seinen Bildern, hielt er sich verlegen den Mund zu, lächelte und sagte dann: »Reden wir später darüber  !« Seine Gemälde hängte Soutine nie auf. Eine »Zurschaustellung« der Bilder, wie er es nannte, war ihm zuwider, er wollte zu Lebzeiten keine Ausstellungen.

Eine seiner Gönnerinnen, die reiche Madame Castaing, in deren pompöser Villa auch Erik Satie, Maurice Sachs und Jean Cocteau aus- und eingingen, beherbergte den inzwischen berühmten, aber lebensfremden Maler bei sich und kaufte ihm sehr viele Bilder ab. Sie berichtete, daß Soutine einmal in großer Aufregung zu ihr und zu ihrem Mann gekommen sei und gesagt habe: »Madame, kommen Sie, ich flehe Sie an, ich habe ein so schönes Pferd gefunden. Ich möchte es malen, niemals wieder finde ich so ein schönes Tier.« Im Wald, in einer Lichtung, fanden sie eine im Gras sitzende Gauklerfamilie beim Mittagessen. Neben dem Jahrmarktskarren stand das ausgespannte, erschöpfte Pferd, das sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, sein Fell war voller Kot, Schwären und Fliegen. Soutine sagte zu Madame Castaing: »Seine Augen sind menschliche Augen, soviel Leid und Erschöpfung drücken sie aus. Es hat nicht mehr die Kraft, sich hinzulegen, und wartet auf den Tod.« Alle wurden sie zur Villa der Castaings mitgenommen, das Pferd, der Karren, die Gaukler, die Kinder. Sie blieben drei Tage, und Sou­tine malte das Pferd. Madame Castaing erzählte auch, daß sie einmal mit ihrer Familie einen Ausflug in den Süden von Frankreich unternahm, Soutine und die Köchin im Haus zurückließ, aber etwas früher als vereinbart zurückkehrte. Das Haus war leer, ihr Gast offenbar unterwegs, aber frischer Farbgeruch schlug ihnen beim Übertreten der Türschwelle entgegen. Sie gingen, um ein mögliches Bild zu entdecken, dem Geruch der Farben nach, durchstöberten alle möglichen Verstecke, und ihr kleiner Sohn Michel fand schließlich im Schuppen unter dem Billardtisch ein neues Bild. Am nächsten Tag erschien Soutine, der bereits an den freudigen und entspannten Gesichtern seiner Gastgeber ablesen konnte, daß sie sein neues Bild entdeckt hatten. Am Abend, als sie bereits im Bett waren, hörten sie, daß Soutine die Tür zu seinem Zimmer öffnete und in den Schuppen ging. Der mißtrauisch und unruhig gewordene Monsieur Castaing lief im Schlafanzug vom Zimmer in den Schuppen und rief dem ein Messer und eine Flasche Benzin haltenden Maler verzweifelt zu: »Soutine  ! Hören Sie auf  ! Das ist ein Meisterwerk  ! Was Sie da machen, ist ein Verbrechen  !« – »Warum haben Sie es angeschaut, Sie hätten auf mich warten müssen  !« antwortete Soutine. – »Ja, das stimmt, aber wir freuten uns so sehr zu wissen, daß Sie gearbeitet haben. Sehen wir uns doch das Bild gemeinsam an  !« Einen Großteil der Nacht, so berichtete Madame Castaing, hätten sie dann alle voller Glück das neue Bild betrachtet, dem er schließlich den Titel gab: »Frau, aus dem Wasser steigend«. Madame Castaing, die mindestens dreißig Gemälde aus seiner Céret-Zeit gekauft hatte, berichtete, daß man, um ein Bild von Soutine kaufen zu können, für ihn erst einmal eine bemalte Leinwand aus dem 17. Jahrhundert auftreiben mußte und daß er außerdem, bevor er auf den Handel einging, ein Céret-Bild einforderte, um es zerstören zu können. Er schloß sich eine Stunde lang mit dem Bild in sein Zimmer ein, schlitzte mit einem großen Messer das Gemälde auf, zerschnitt es und warf die Fetzen in den Holzofen. Eines Tages rief Zborowski Madame Castaing an: »Ich glaube, ich habe etwas für Sie  !« Zborowski kam mit dem Bild in die Villa der Castaings und sagte: »Wissen Sie, das hier ist ein sehr teures Gemälde. Soutine ist sehr anspruchsvoll geworden, seit Albert Barnes so viele Arbeiten von ihm gekauft hat«, und zeigte der Familie das Gemälde von einem Chorknaben in liturgischen Gewändern. Monsieur Castaing zog sofort das Scheckheft heraus und zahlte den geforderten Betrag von 30.000 Francs. Madame Castaing, zu der Soutine Vertrauen gefaßt hatte, erzählte er einmal aus seiner frühesten Kindheit im Schtetl Smilowitsch. Er lag in einer Wiege und beobachtete voller Bezauberung das Spiel von Licht und Schatten an der Wand. Seine jüdische Religion, erzählte Madame Castaing, mochte Sou­tine nicht, aber er begleitete sie, als er in ihrer Villa wohnte, jeden Sonntag zur Messe in die Kathedrale von Chartres, wo er immer hinter einer bestimmten Säule wartete. Er sagte, daß es sehr bewegend sei, betende Menschen zu sehen.

Soutines Faszination durch vornehmlich blaue Hüte – er hatte unzählige gekauft – ging soweit, daß er diesen Fetisch als lebensrettende Tarnkappe mißverstand. Während der deutschen Besetzung Frankreichs sah man den jüdischen Künstler öfter sorglos durch die Straßen von Paris gehen. Als ihn ein Freund vor der Gefahr warnte, erkannt und von den Nazis verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert zu werden, sagte Soutine arglos, daß man ihn gar nicht erkennen könne, da er ja einen neuen blauen Hut trage. Nachdem das Dekret zur Erfassung der Juden erlassen worden war, meldete er sich bei der Behörde. Als er aus dem Amt kam, begegnete er zufällig Chana Orloff, zeigte ihr lachend seine Karte, auf der der Stempel verrutscht war, und sagte: »Die haben mir mein JUDE ramponiert.« Einerseits berichtete Chana Orloff, daß Soutine im Gegensatz zu Marc Chagall, der rechtzeitig auswandern konnte, vergebens versucht habe, bei der amerikanischen Botschaft eine Einreisebewilligung für die USA zu erhalten, andererseits hieß es, daß Soutine das besetzte Paris gar nicht verlassen wollte, da er befürchtete, in der freien Zone keinen Zugang zu frischer Milch zu haben, die für seine Magendiät notwendig war. Schließlich aber mußte der registrierte Jude Chaim Soutine außerhalb von Paris in kleinen Ortschaften Zuflucht suchen und immer wieder woanders untertauchen. In dieser Atmosphäre der Spannung, Angst und Nervosität verschlimmerten sich seine Magengeschwüre. Seine frühere Freundin Mlle. Garde wurde in Paris interniert und in das Konzentrationslager Gurs in den Pyrenäen deportiert. Sie überlebte den Krieg, sah aber Soutine lebend nie wieder. In dieser unruhigen Zeit lernte er Marie-Berthe Aurenche, eine ehemalige Frau von Max Ernst kennen. Obwohl es immer wieder Nachforschungen der Polizei über seinen Aufenthalt gab – ein einflußreicher Dorfbürgermeister konnte eine Zeitlang seine schützende Hand über Soutine halten –, verbrachte er die letzten zwei Jahres seines Lebens mehr oder wenige in Ruhe mit Marie-Berthe Aurenche, ehe er Anfang August 1943 einen schweren Anfall erlitt und Marie-Berthe sich entschloß, den schon fast auf die Knochen abgemagerten Soutine nicht ins nächst gelegene Krankenhaus zu bringen, sondern in die Hauptstadt zu fahren, zu dem berühmten Arzt Dr. Grosset. Wegen der Gefahr, von den Nazis angehalten zu werden, fuhren sie mit einem Leichenwagen, nahmen aus Sicherheitsgründen mehrere Umwege und kamen erst nach einer vierundzwanzigstündigen Fahrt in Paris an. Doktor Grosset konnte Soutine nicht mehr retten. Chaim Sou­tine erlitt einen Magendurchbruch mit inneren Blutungen und starb während der Operation am 9. August 1943, um 6 Uhr morgens. Die Sterbeurkunde war mit dem Stempel versehen: »Connu comme Juif« – Bekannt als Jude  ! Sein genaues Geburtsdatum weiß niemand. Vom Verkauf seiner Gemälde konnte Marie-Berthe auf dem Cimetière Montparnasse ein Grab erwerben, wo seine sterbliche Hülle zwei Tage später, unweit vom Grab Baudelaires, beigesetzt wurde. Auf der Grabplatte befindet sich ein großes christliches Kreuz, sein Vorname wurde falsch eingemeißelt. Unter den fünf Begräbnisgästen waren, neben Mlle. Garde, Marie-Berthe Aurenche, Pablo Picasso, Max Jacob und Jean Cocteau. Zur selben Zeit ereignete sich in seiner Heimat Smilowitsch ein grausamer Massenmord, der das Städtchen fast auslöschte. Auch der Vater und die zehn Geschwister von Chaim Soutine haben vermutlich bei diesem Verbrechen der SS den gewaltsamen Tod gefunden.